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"Glücklich ist, wer nie verlor im Lebenskampfe den Humor"
Über Humor als Lebenshaltung.
Zu der Massenschlägerei zwischen Polizei und Jugendlichen auf dem IGA-Pressefest Mai 1978
Erfurt 1978: Schlagstöcke gegen Blues- und Rockfans
Neue Tumulte in der DDR
Die vielleicht einzige digitale Veröffentlichung zu der von uns entwickelten Lehr-Alternative im Philosophiestudium in der studentischen Zeitschrift "Seminarum", Heft 6/1988 unter dem Namen
"JFK-Jugendforschungskollektiv 81-05", siehe dort Seite 97.
Die Philosophiezeitschrift „Seminarum" / Inhaltsverzeichnisse, Seite 96f.
Philosophische Praxis - Lebenskönnerschaft
Zur Internetseite meines verehrten Lehrers Dr.Gerd B.Achenbach
Zur Unterscheidung zwischen Lebenskunst und Lebenskönnerschaft
Bildung, nicht nur Ausbildung
Thesen zu dem hier erwähnten Bildungsbegriff. »
"DenkWege zu Luther"
Das bundesweite Projekt zur philosophischen, kulturellen und religionskundlichen Bildung mit Jugendlichen zum Reformationsjubiläum 2017
Über Humor als Lebenshaltung.
Zu der Massenschlägerei zwischen Polizei und Jugendlichen auf dem IGA-Pressefest Mai 1978
Erfurt 1978: Schlagstöcke gegen Blues- und Rockfans
Neue Tumulte in der DDR
Die vielleicht einzige digitale Veröffentlichung zu der von uns entwickelten Lehr-Alternative im Philosophiestudium in der studentischen Zeitschrift "Seminarum", Heft 6/1988 unter dem Namen
"JFK-Jugendforschungskollektiv 81-05", siehe dort Seite 97.
Die Philosophiezeitschrift „Seminarum" / Inhaltsverzeichnisse, Seite 96f.
Philosophische Praxis - Lebenskönnerschaft
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"DenkWege zu Luther"
Das bundesweite Projekt zur philosophischen, kulturellen und religionskundlichen Bildung mit Jugendlichen zum Reformationsjubiläum 2017
Das Projekt "Wendezeiten-Zeitenwende" wurde gefördert durch:
Carsten Passin Politisch werden ist so individuell wie der Geschmack | philoSOPHIA e.V.
Politisch werden ist so individuell wie der Geschmack - Erinnerungen an Weichenstellungen auf dem Weg zu einem politischen Menschen
Carsten Passin
So unmöglich es ist, zu wählen, nicht zu wählen, so wenig gibt es einen un-politischen Menschen, betrachtet man die Wirkungen seines Tuns und seines Lassens. Darüber hinaus ist politisch, wer sich in irgendeiner Weise – praktisch wie geistig - über den engen begrenzten Kreis seiner Privatverhältnisse, das „geistige Tierreich“, wie es Hegel nennt, erhebt und sich für die allgemeineren Angelegenheiten seiner sozialen Gruppe, Gesellschaft oder gar der Menschheit interessiert und darin tätig wird.
Die Frage, die manchmal auch in Seminaren von Jugendlichen an erwachsene Gesprächspartner gestellt wird, wie jemand politisch wird und wie das in der DDR war, zielt wohl im Zusammenhang politischer Bildung noch genauer darauf, wie jemand sich aus dem Mitlaufen und Mitmachen befreit, wie jemand politisch aufwacht und zu erkennen beginnt und wie es kommt, dass jemand die recht hohe Kulturleistung vollbringt, Demokrat oder Demokratin zu werden und, sich verändernd, zu bleiben.
Zu verstehen, wie ein Individuum politisch wird, ist weniger eine Frage für Soziologen, Anthropologen oder sonstige Menschenwissenschaftler. Diese wollen erklären und müssen deshalb verallgemeinern, was individuell ist. Was aber dem Verstehen zugänglich werden soll, muß in Geschichten erzählt werden. Nur so ist auch die konkrete Widersprüchlichkeit, das Inkongruente fassbar. Nicht umsonst war einer der Leitsätze Goethes jenes „Individuum est ineffabile“ - - „woraus ich eine Welt ableite“.
Politisch zu werden, ist, wie andere wichtige persönliche Formungen, gebunden an praktische Erlebnisse, an Personen, an geistige Erfahrungen mit Literatur, Musik, bildender Kunst, Philosophie. Für sich allein sind diese jedoch keine Ursache, sie wirken durch die Person, die ihnen begegnet. Die also nicht vergißt und abwehrt, sondern sich öffnet, nachdenkt, verarbeitet, sich auseinander- und, viel wichtiger - zusammensetzt mit ihnen. Die Frage ist also: Wie kommt jemand dazu, sich zu öffnen, den eigenen engen subjektiven, rein privaten Kreis zunächst mental und geistig und dann vielleicht auch in der Tat zu verlassen? Wie entstehen Interesse, Aufmerksamkeit, Wille, Umsicht über die „Pflege des eigenen zarten Selbst“ (Schopenhauer) und seiner Unterhalts- wie Unterhaltungsbedürfnisse hinaus? Wie werden sie geweckt, stabilisiert, entwickelt und erhalten?
Von einigen dieser besonders prägenden Erfahrungen soll im Folgenden am individuellen, aber nicht singulären Beispiel eines gelernten DDR-Bürgers, Jahrgang 1960, berichtet werden.
Grund legender Einfluss – Der Vater
Wie ich politisch wurde, könnte ich in einem Satz zusammenfassen: Durch meinen Vater.
Solange ich denken kann, gehörten die Themen „Ereignisse in der Politik“ und „Erlebnisse im Betrieb“ zum täglichen Gesprächsstoff meiner Eltern, besonders meines Vaters. Dieser war ein Kommunist noch aus spätstalinistischer Schule, ein klassenbewusster Proletarier erster Güte, jahrelang in Betriebspartei- und Gewerkschaftsämtern engagiert. Einer, der hemdsärmlig und mit lauter Stimme mit der geballten Faust auf den Tisch haute, wenn ihm irgendetwas nicht den richtigen sozialistischen Gang zu gehen schien, und das war nicht wenig. Misswirtschaft und politische Lüge waren ja allgegenwärtig. Da war es dann auch egal, wer vor ihm saß – die versammelte Parteigruppe seines Betriebes, der Direktor oder ein Minister.
Das imponierte dem Sohn schon sehr früh, und das blieb auch so. Auch als dann die pubertären Abnabelungskämpfe einsetzten, mit zunehmendem Wissen und eigener Erfahrung klarer wurde, wie politisch eingegrenzt Vaters Horizont war und auch dann noch, als diese kämpferische Haltung in der Wende ihren Halt verlor und resigniert zusammenbrach.
Es war ein alltägliches Hineinwachsen in zwei frühe Überzeugungen: dass der Sozialismus etwas sehr Gutes sei – Hintergrund auch bei den Eltern waren ihre Erfahrungen der NS-Zeit – und, dass der Sozialismus längst nicht am Ziel sei, dass er gefährdet ist durch die Dummheit und Machtarroganz eigener Leute und durch Angriffe vom bösen Klassenfeind.
Was ich dabei leider nicht lernte: dass das Gerede vom Klassenfeind allzu oft der Lügenschleier war, den die Herrschenden über ihre eigenen Fehler, Verbrechen und Versäumnisse legten und dass im tiefsten Inneren des Herrschaftssystems des Sozialismus ein Wurm saß und fraß, nämlich die Missachtung des Individuums und seiner Würde. Beides erfuhr und begriff ich erst später und das war kein leichter Weg.
Das Verständnis dafür verhindernd war neben vielem eine zentrale Tatsache: die uns da beherrschten an oberster Stelle waren z.g.T. - so lernten wir es jedenfalls - aus dem antifaschistischen Widerstand hervorgegangen. Das gab ihnen fast eine Gloriole, jedenfalls eine Legitimation, deren Wirkmächtigkeit ich bei mir und anderen erst in der Wende so recht begriff. Es dauerte bei mir ca. 15 Jahre seit meinen ersten eigenen tastenden politischen Überlegungen mit etwa 14 Jahren, dass ich aus tiefster innerer Klarheit und Gewissheit einen so unglaublich trivialen Satz wie diesen für mich formulieren konnte: „Antifaschist zu sein, bedeutet noch lange nicht, ein guter Mensch zu sein.“ Es war ein nachhaltig heilsamer Satz. Denn mit ihm war jedes Bedürfnis nach Verbrüderung mit und jede politische Heimatsuche bei politischen Gruppierungen mit der Vorsilbe „anti-„ im Namen oder in der Haltung erledigt, ebenso die Anhänglichkeit an politische Moden.
Seitdem, und dies ist eine meiner wichtigsten politischen Erfahrungen, urteile und werte ich im Politischen weniger nach dem, wogegen jemand ist, sondern wofür. Nicht das Anti, sondern das Pro wurde für mich entscheidend. Damit reduzierte sich das für mich ernstzunehmende politische Spektrum ganz erheblich. Der Bereich (nicht die Zahl) derjenigen, mit denen ich als Person ohne innere Parteigrenzen und ideologische K(r)ämpfe politisch reden kann, erweiterte sich im selben Maße.
Ein letzter Satz zur Politisierung durch den Vater. Es gab jahrelang eine klassische Märchensituation: eine Tür im Schloss war verboten, unter Androhung von Strafe. Die reizt besonders. Bei mir war es das Westfernsehen. Ich durfte bis zu meinem 15 Lebensjahr keines gucken, tat es aber heimlich, wenn die Eltern arbeiten waren. Ich schlürfte alles aus dem Westen ein, was sich bot, von Politik bis Unterhaltung, Werbung bis Ratgeber. Damals habe ich in 2-3 Jahren mehr Bundestagsdebatten gesehen als seitdem insgesamt. Besonderes Vergnügen bereiteten mir die Schlachten zwischen K.E.v.Schnitzler und R.Löwenthal im „Schwarzen Kanal“ und im „ZDF-Magazin“ – politisch-missionarische Engstirnigkeit pur mit allen ihren verheerenden Folgen für Wahrheit und Differenzierung. Seitdem zucke ich jedes Mal, wenn jemand in politischen Angelegenheiten einen Tonfall wie die beiden anschlägt.
Westfernsehen war ein korrigierendes Pendant. Sehr vieles verstand ich nicht. Aber da war immer eine andere Welt und damit war die Perspektivität, die Pluralität, die Wahrheits- und Meinungsrelativierung in mein Leben getreten.
Das erste politische Erlebnis
Die früheste politische Erinnerung ist die Berichterstattung über die 68er Ereignisse in Prag. Da war ich 8 Jahre alt und verstand gar nichts. Geblieben ist mir ein vages Bild in der Erinnerung: Titelseite einer Zeitung mit großem Foto von marschierenden Soldaten mit runden Kugelhelmen. Die Erklärung, die ich erinnere, war: die Bundeswehr marschiert in der CSSR ein! Was für ein Schreck! Krieg? Ich kannte den Vietnamkrieg aus dem Fernsehen, der meine Kinderseele oft verstört hatte.
Es dauerte über 8 Jahre, ehe ich begann, zu verstehen und hinter den offiziellen Erklärungen in den DDR-Geschichtsbüchern die wirklichen Zusammenhänge in den Blick zu bekommen. Da waren, wie so oft, literarische Werke die einzigen Lehrmeister. In diesem Fall waren es für mich vor allem Reiner Kunze (damals nur in handschriftlichen Kopien verfügbar) und Volker Braun. Nun verstand ich auch, warum ich beim Trampen Richtung Prag einmal Prügel von einem Tschechen bezog, als der hörte, dass ich aus der DDR komme, dem Land, das Hilfstruppen für die Besatzer von ´68 stellte.
„Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen.“
So klang jahrelang die offizielle Losung. - Bis dann Gorbatschow kam und dieser Spruch sich in eine widerständige Hoffnungsparole verwandelte. Auch ich lernte mit 14 von der Sowjetunion. Meine selbst gewählte Jugendweihereise ging 1974 nach Minsk und Moskau. Von ihr kam ich politisch verwirrt und zweifelnd zurück. Mein schönes Bild von der großen erfolgreichen Sowjetunion, die führend auf dem Wege zum Kommunismus voranschritt, war tief beschädigt, ich hatte den ersten bewußten massiven Kontakt mit der alltäglichen politischen Lüge.
Was hatte ich erlebt? Armut in den großen Städten, Bettler, heruntergekommene Kinder auf den Straßen, die nach Brot und Westkaugummi gierten. Eine politische Reklamewelt, die allgegenwärtig, aufdringlichst und protzend war, wie ich es aus der Losungs-, Transparent und Fahnen- reichen DDR nicht kannte und erst im Westen in Form von Waren- und Wahlwerbung in noch einmal gesteigerter Form wiedererlebte.
Besonders abstoßend war ein allgegenwärtiger moralischer Terror auf Plakaten, in Lautsprecheransagen in öffentlichen Verkehrsmitteln und auf Anklagewänden in den Wohngebieten. Dazu kam die Erfahrung extrem hierarchischer Verhältnisse zwischen Menschen, denen gegenüber wir in der DDR geradezu freiheitliche Verhältnisse hatten: zwischen Vorgesetzten und Untergegeben, zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, zwischen Männern und Frauen. Wer nur ein wenig mehr Macht als sein Nebenmensch hatte, schien diese gnadenlos auszuspielen. Später las ich genau dies bei Bulgakow, Sostschenko, Gorki, Tolstoi und Majakowski. Nur – das war weit über ein halbes Jahrhundert früher, vor und kurz nach der Revolution, die alle knechtenden Verhältnisse umstürzen wollte und sollte. Im selben Jahr lieferte die Klaus Renft Combo dazu in ihrem Revolutionslied „Nach der Schlacht“ einen mich tief beunruhigenden Kommentar:
„Der Mensch bleibt
wie er war, außen und
unterm Haar,
wie er war.“
Machiavelli und Hobbes las ich erst später, als meine naiven Hoffnungen auf einen neuen Menschen längst von der Realität kritisiert waren.
Diese Erlebnisse bestätigte und vertiefte ich, inzwischen politisch aufmerksamer und wissender, 10 Jahre später bei einem Studentenaustausch mit der Universität in Kiew. Die Diskussionen mit den Atheismus-Professoren, an deren Lehrstuhl wir als Philosophiestudenten zu Gast waren, erledigten jede noch irgendwie vorhandene Illusion, dass von der Sowjetunion noch anderes als der Untergang des Sozialismus zu lernen sei (Gorbatschow war noch nicht in Sicht).
Fröhliche Erleichterung in der inneren Verwirrung brachte u.a. das wunderbare Literaturprogramm von Werner Sellhorn und Peter Bause „Von der Sowjetunion lernen, heißt lachen lernen“, vor allem mit Texten von Michail Sostschenko oder das großartige „Jazz Lyrik Prosa“, ebenfalls von Josh Sellhorn, mit Manfred Krug´s Glanzvortrag von Sostschenkows „Kuh im Propeller“.
Dies muß ohnehin angemerkt werden: Der politische Humor in der DDR, in jeder Form, ob als Witz, Kabarett, Lied oder Karikatur war unglaublich stark entwickelt und eines der wichtigsten Politisierungsmittel überhaupt. Das Lachen half verstehen und überstehen. - Sozialismus ist, wenn man trotz(t)dem lacht.
Weichenstellungen
Der Boden zu einem politisch-Werden war also bereitet, die Samen gelegt. Er hätte aber auch keine oder ganz andere Früchte zeitigen können, wenn die Zeit der Pubertät, des jugendlichen Aufbruchs und der ersten eigenen Schritte in der Welt anders gelaufen, von anderen Erfahrungen, Lektüren und Personen begleitet gewesen wäre, die manchmal nur zufällig auftauchten. Es bestand z.B. die Gefahr, der eigenen Schwäche zu erliegen, auf die Seite der Macht überzulaufen und ihr über das für einen DDR-Bürger „normale Maß“ hinaus dienstbar zu werden. So hat die Stasi dreimal geglaubt, mich kaufen zu können. Auch wäre genauso ein Hineinleben in Oppositionskreise möglich gewesen, dazu fehlten zu lange die persönlichen Kontakte, zumal ich aus einem sehr kirchenfernen Elternhaus kam und z.B. kirchlichen Gruppen gegenüber lange Zeit Berührungsängste hatte und geradezu wie ein Kind „fremdelte“ gegenüber dieser mir vielfach unverständlichen, mehr oder weniger religiös geprägten Welt.
Heute bin ich froh, einen manchmal bis zum Zerreißen widersprüchlichen inneren Politisierungsprozess erlebt zu haben, teils selbst gehend, vielleicht manchmal sogar ein wenig aufrecht, teils geschoben, gezogen und getrieben.
Das hilft, andere zu verstehen und nicht vorschnell zu rechten und zu richten.
Jugend
Die entscheidende Zeit der ersten und in vielem maßgeblich bleibenden Politisierung war das 15. bis 18. Lebensjahr, die Zeit, in der auch alle anderen wesentlichen Lebensbezüge über die Familie und Schule hinaus sich entfalten.
Diese Politisierung ist nur als Puzzle vieler Erfahrungen und Erlebnisse zu beschreiben, die ihre politisierenden Wirkungen hatten, ohne immer selbst direkt im Politischen angesiedelt zu sein. Das habe ich auch als Erfahrung mitgenommen in die Diskussionen seit den 90ern, welche Formen von Bildung denn überhaupt (förderwürdige) politische Bildung seien.
Am wichtigsten war der kleine, aber feine Kreis der Freunde, der Austausch über das Erlebte, die gegenseitige Stärkung und der Bildungsprozess, den wir uns gegenseitig angedeihen ließen. Jeder schleppte etwas Neues an, Bücher, Platten, Infos. Wir lasen gemeinsam, hörten gemeinsam, schrieben aus raren Westbüchern ab oder fotografierten einzelne Seiten und diskutierten alles. Die Welt lag offen vor uns und bekam ihre Interpretation vor allem durch Hermann Hesse, Friedrich Nietzsche, Franz Kafka, Charles Bukowsky, Jack Kerouac und, für mich damals und lange sehr wichtig, Günter Kunert.
Manchmal trafen wir auf Ältere in der Szene, die uns neue Welten erschlossen, durch neue Musik und Literatur, besonders aber durch ihre Lebensformen, die manchmal ganz anders, radikaler, riskanter waren als bisher gekannt und von uns ausprobiert. Deren Erfahrungen und Erzählungen waren auch politisch gesehen ein sehr wichtiger Bildungsimpuls für uns. Nicht immer der beste, manches führte auch in Sackgassen und schmerzhafte Abgründe, aber es bildete, besonders durch Faszination und Irritation und machte nachdenklich. Zur Irritation zählte auch das Auftauchen der ersten Punker und dann rechtsradikaler Skinheads in unserer Umgebung Anfang und Mitte der 80er Jahre.
Besonders meine Liebe zur Rockmusik war einer der Gründe, warum ich manchmal sehr ernsthaft über eine Ausreise nachdachte, die ja prinzipiell nur als sog. „Republikflucht“ denkbar war. Oder man stellte einen „Ausreiseantrag“, der sehr unsicher war und oft die Hölle nach sich zog. Ich wollte bestimmte Gruppen im Konzert sehen, ich wollte meine geliebten Platten hören und nicht 100,- bis 600,- Mark dafür auf dem Schwarzmarkt bezahlen müssen und ich wollte die Bücher lesen, die es bei uns nur und allzu selten unter der Hand gab, wenn man keine Möglichkeiten hatte, sie sich aus dem Westen schicken zu lassen.
Ein wichtiger anderer Grund war schon recht früh: ich wollte so gern Paris sehen, davon träumte ich lange inbrünstig. Es war für mich die Stadt der literarischen Avantgarde, der existenzialistischen Philosophie, des Jazz, die Stadt, wo Jim Morrison starb und begraben liegt. Eine Stadt randvoll gefüllt mit Sehnsüchten und Zuschreibungen - die Welt eben. Klar war jedoch, Ausreise hieße, nicht wiederkehren zu können. Für mich wäre es Verrat gewesen und manches andere mehr – wir haben im kleinen Freundeskreis sehr oft und lange darüber gestritten, ob eine Ausreise moralisch zu legitimieren wäre.
Dies war eine der ersten und drängendsten politischen Fragen, mit denen ich bzw. wir Jugendlichen in meinem Kreis insgesamt allein gelassen waren. Es gab fast keine Erwachsenen, die wir hätten fragen können, wir mussten selbst Gründe abwägen und Entscheidungen treffen. Das betraf aber auch viele andere politische Fragen, eigentlich so gut wie alle. Wir waren damit allein. Die wenigsten hatten das Glück, aufgeschlossene, selbständig denkende Eltern zu haben, von Lehrerinnen und Lehrern ganz zu schweigen. Das wiederum heizte unseren Heißhunger auf hilfreiche Lektüre an und unsere Diskussionswut im engen Kreis der Freunde.
Zwei Ausnahmen gab es für mich, meinen Biologielehrer – er wurde bei seiner Republikflucht verhaftet und von uns nie wieder gesehen und meinen Physiklehrer und zugleich Leiter unserer Höhlenforschergruppe, der ich bis zur Volljährigkeit 6 Jahre angehörte. Auf den langen Wanderungen zu Höhlenexpeditionen wurde viel diskutiert. Hier hörte ich erstmals mit 15, 16 Jahren von Stalin, vom Gulag, vom deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, von der Auslieferung deutscher Kommunisten aus Moskau an die Gestapo, von Chrustschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag, auch von der maoistischen Kulturrevolution, von Tito, von Albanien, vom 17. Juni 1953 und Ungarn 1956. Unvorstellbare Dinge für mich, die es offiziell gar nicht gab oder nur in sehr vager, völlig anders ausgerichteter Formulierung. Aber da sie von dieser verehrten Vertrauensperson kamen, mussten sie wahr sein. Wenig später fand ich in Georg Orwells „1984“ und „Die Farm der Tiere“ eine literarische Verarbeitung der politischen Lüge als System.
Die politische Bildung in jener Zeit, war für uns maßgeblich Selbstbildung, sehr unterstützt durch Texte von DDR-Rockgruppen wie Renft, Karussell oder später Pankow und Silly, Liedermacher wie Wolf Biermann, Bettina Wegener, Stephan Krawczyk, Duo Sonnenschirm oder Gundi Gundermann. Sie waren politisch prägend und gaben so etwas wie eine politische Heimat im Geiste, auch wenn ich mit vielem nicht klar kam: Biermanns unglaublicher Ruppigkeit und Selbstverliebtheit, Krawczyks hemdsärmligem Bardengetue oder Wegeners Wehleidigkeit. Trotzdem: Sie sprachen aus, was uns bewegte und missfiel und sie brachten auf neue Gedanken und öffneten neue Sichtweisen. Manchmal musste man genau hinhören, aber das lernten wir mit der Zeit. Tamara Danz von „Silly“ sprach in einem Nachwendeinterview einmal von den „grünen Elefanten“, die in die Rocktexte eingearbeitet waren - besonders vordergründige Stellen, die garantiert verboten wurden und dabei die Zensorinnen und Zensoren andere Stellen, um die es eigentlich ging, übersehen ließen.
Aber auch Udo Lindenberg muß hier Erwähnung finden, der für viele von uns damals ein Sprachrohr unserer politischen Vorstellungen und Lebensempfindungen war. Später kam „Ton Steine Scherben“ dazu – „Keine Macht für niemand“.
Unsere politische Selbstbildung erfolgte ebenso stark durch belletristische Literatur von DDR-Schriftstellern und Schriftstellerinnen, von denen in meinem Fall neben den schon genannten mindestens noch Franz Fühmann, Christa Wolf, Maxi Wander und Erich Loest besonders erwähnt werden müssen.
Für mich wurden aber auch recht früh Philosophien wichtig, auf die ich zufällig in der Bibliothek stieß. Die ersten Philosophen, die ich mit 15 Jahren las, waren Seneca, Plutarch und Marc Aurel. Ich war hingerissen über diese, nur auf den ersten Blick unpolitische Sicht auf die Menschen, die mir neu war. Da war vom stoischen Menschen und nicht vom „sozialistischen Menschen“ die Rede, von der Errichtung einer „inneren Burg“ und das aus einer ungeheur distanzierten Draufsicht, wie ich sie später nur und ganz anders bei Ernst Jünger wiederfand – und alles, was den Alltag und die Gesellschaft um mich her so unerträglich machte, schrumpfte zusammen zu einem geringen Etwas, einem Adiaphorum, gegenüber der gestellten großen Aufgabe, kraft eigener Vernunft ein Mensch zu werden im Sinne des „Werde, der du bist.“. Da war die Ahnung eines ganz neuen Blickes für mich gewonnen, den ich mir bewahren und entwickeln wollte. Politisch grundsätzlich prägend bis heute blieb für mich der stoische Kosmopolitismus und die stoischen Grundregeln, 1. zu unterscheiden, was in meiner Macht liegt und was nicht und 2., dass es nicht die Dinge sind, die uns beunruhigen, sondern unsere Vorstellungen von den Dingen.
Dann entdeckte ich den Philosophen, der mich seitdem bevorzugt begleitet, Friedrich Nietzsche. In einem Antiquariat fand ich eine alte Dünndruckausgabe des Zarathustra. Völlig unerklärlich, denn Nietzsche war in der DDR höchst unwillkommen. Das erfuhr ich später bei der Armee am eigenen Leibe, als mir eben jener in meinem Spind konfiszierte Zarathustra ein Verhör mit einem Stasi-Major einbrachte, der wohl glaubte, ich sei von Nietzsches Amoralismus so angefressen, dass ich mich skrupellos seiner Werbung zum IM ergeben würde. Er hatte nichts verstanden von Nietzsches Begriff der „Vornehmheit“ und der Absage des jungen Nietzsche an eine daseinsvermiesende Politik gründlich-allzugründlicher Daseinsverbesserung.
Der Zarathustra war für mich ein Ereignis, nur zu vergleichen mit der Entdeckung von Frank Zappa´s musikalischen Universum ganz kurze Zeit später - so etwas wie ein inneres Erdbeben. Beide hatten entscheidenden und bleibenden Einfluss auf mich, auch in politischer Hinsicht. Anfangs fühlte ich nur und begriff fast nichts. Heute, nach 35 Jahren regelmäßiger Beschäftigung mit beiden, hat meine Faszination benennbare Gründe.
Wenn ich zusammenfasse, was beide für mich verbindet und mich zugleich auch politisch an ihnen am meisten fasziniert und geprägt hat, dann ist es die von ihnen gelebte und mit höchsten Forderungen an sich selbst verbundene Idee der individuellen Freiheit, es ist ihre radikale kritische und distanzierte Sicht auf ihre Zeit, ihre geistige und künstlerische Experimentierfreudigkeit und Redlichkeit sowie ihre Fähigkeit zu ungewöhnlichsten Perspektivwechseln.
Daumen im Wind
Trampen war meine Lieblingsbeschäftigung. In den Sommerferien zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr war ich immer mehrere Wochen unterwegs, oft allein – eine Schule an Selbständigkeit, Verzicht, Angstüberwindung, Menschenkenntnis, Durchstehvermögen u.a.m.
Politisierend wirkte das Trampen vor allem durch die Freiheitserfahrung, die einem die gesellschaftlichen Zustände noch enger und bedrückender empfinden ließ und durch die Erfahrung realer Solidarität zwischen Menschen, die sich kaum kennen, sehr verschieden sind und doch einander in vielfältigen Situationen helfen. Vor allem aber durch die permanente Konfrontation mit den „bewaffneten Organen“. Ich habe nie gezählt, wie oft ich jeden Sommer von der Polizei, Zollbeamten und manchmal von Stasileuten wegen meines Aussehens (das Übliche: lange Haare, Jesus-Latschen, Jeans, Rucksack) angehalten, verhaftet und verhört wurde. Es war irgendwann wie kalter Regen: unangenehm und störend, aber unvermeidlich und mit einiger Sicherheit voraussehbar.
Irgendwann stellte sich auch Humor ein, die wohl beste Art, nicht nur solche Erlebnisse zu nehmen.
Der Staat jedenfalls konnte mit derartigen Erfahrungen keinen Staat bei mir machen. Ein Anhänger des Sozialismus blieb ich trotzdem. Denn es saß sehr tief, das selbstgestrickte Dogma: der Sozialismus ist gut, nur die jetzt Herrschenden versauen ihn. Konsequenterweise glaubte ich mit vielen dann auch lange daran, dass die sog. „biologische Lösung“, also Personalwechsel, alles besser machen würde. Zunehmend habe ich das Empfinden, die heutigen Hoffnungen vieler auf die verändernden Folgen von Parteienwechsel bei den Wahlen seien von ähnlicher Irrtumsqualität.
Blues & Trouble
Der tiefgehendste politische Knacks mit dem größten Bildungserfolg in mir erfolgte 1978. Auf einem Pressefest der SED-Parteizeitung „Das Volk“ auf der Erfurter IGA, bei dem sehr viele Jugendliche wegen der angekündigten Blues- und Rockkonzerte waren, kam es zu einer Massenschlägerei mit der Polizei.
Das war so neu nicht, wohl aber in diesem Ausmaß.
Das schlimme war die gezielte Provokation seitens der Polizei, die das Ganze erst zum Kochen brachte, und dann die Verlogenheit, mit der die Polizei unbeteiligte Menschen aus dem Kampfgetümmel zuerst dirigierte und dann mit derselben maßlosen Brutalität zusammenschlug wie die kämpfenden Jugendlichen, ohne Rücksicht auf Frauen und Kinder. Ich sah dort erstmals die volle Kampfausrüstung der sog. Volkspolizei im Einsatz gegen das eigene Volk. Ich kannte dieses Outfit vorher nur aus dem Westfernsehen von der Westpolizei. Ich sah auch Leute in GST-Uniformen und Zivilisten, die mit handlich zurechtgeschnittenen armdicken Erdkabelstücken auf Jugendliche einprügelten. Danach gab es wochenlang an den Schulen und in den Betrieben eine Hatz auf Beteiligte, glücklich, wer für das Wochenende ein Alibi hatte. Wir gaben es uns gegenseitig und manche Eltern spielten mit.
Es stieg die Ahnung auf, nicht nur in mir, dass die DDR nun am Ende ist, alles nur noch eine Frage der Zeit. Es dauerte dann noch 10 Jahre.
Homo homini lupus
Dann kam der Kriegsdienst in der NVA und mit ihm in kürzester Zeit der völlige Zusammenbruch meines bis dato trotz Nietzsche und Schopenhauer noch immer einigermaßen optimistischen Menschenbildes. Das Armeeleben ermöglichte Menschen ganz ungehindert ihre erbärmlichsten und widerwärtigsten Seiten auszuleben, was von Seiten der Vorgesetzten oft als Ordnungsmittel eingesetzt wurde und manchen Soldaten die Gesundheit kostete. Dies war auch eine sehr tiefgehende politische Erfahrung, die vor allem meine späteren anarchistischen Sympathien und politischen Bildungshoffnungen bis heute kritisch begrenzt: ich erfuhr am Negativbeispiel die Notwendigkeit vernünftiger politischer Institutionen und Bedingungen zur Domestizierung des Wolfes, der ein Mensch dem anderen sein kann.
Die letzten Jahre vor der Wende brachten viele widersprüchliche, aber keine prinzipiell neuen politischen Erfahrungen, wohl aber durch das Philosophiestudium eine genauere Kenntnis des Werkes von Karl Marx und damit auch die Einsicht, wie eigenartig „die Ideen von Karl Marx in der sozialistischen DDR verwirklicht“ wurden.
Beim Philosophiestudium in Leipzig hatten wir das Glück, einzelne gute Professoren und Dozenten zu haben, die uns in die Geschichte der Philosophie ohne oder zumindest mit erheblich geringeren M/L-Dogmatismus einführten. Als Student hatte ich mit einem Freund eine riesige 6-Raum-Wohnung in einem alten verfallenden Haus besetzt. Dort hatten wir nicht nur einen Proberaum für Punkbands im Keller, sondern hielten hier manches informelle Seminar mit ausgewählten Dozenten ab. Viele lange Nächte war unsere Wohnung Treff für hitzige Diskussionen und natürlich auch diverse Feiern.
Als Philosophiestudenten begannen wir, die marxistisch-leninistisch festgezurrte Lehre im Bereich Philosophie und Philosophiegeschichte zu kritisieren und eine Alternative zu entwickeln. Wir arbeiteten an alternativen Curricula und waren praktisch dabei, einige Ideen davon nach dem Studium an unseren Arbeitsstellen in verschiedenen Hochschulen umzusetzen, als die Ereignisse des Herbstes 1989 die Arbeit an diesem Projekt historisch erledigten.
Schönstes Ereignis in dieser Zeit war die Erfahrung, wie vereinzelte alte Philosophieprofessoren, die schon in den 60er Jahren versucht hatten, gegen Kurt Hager´s stalinistisch geprägte Dogmatik eine andere Philosophielehre zu entwickeln, uns unterstützten und – z.T. mit Tränen in den Augen - alte Manuskripte aus ihren Schubladen zogen, in der Hoffnung „die Enkel fechtens besser aus“. Hinzu kam, dass einige Studenten und Nachwuchswissenschaftler eine eigene Philosophiezeitschrift „Seminarum“ gründeten. Die auf Ormig abgezogene Auflage betrug genau 99 Stück, so dass sie auch ohne die nicht erteilte Druckerlaubnis erscheinen konnte.
Der Widerspruch zwischen meinem hoffnungsvollen Glauben an die Möglichkeit einer menschlichen, und das hieß damals, sozialistischen Welt und den erfahrenen Realitäten von realsozialistischem Machtgebrauch, politischer Lüge und Herrschaftszynismus vertiefte sich.
Ich suchte zaghaft Kontakt zur protestantischen Kirche, besonders zur „Kirche von unten“, erlebte die kirchlichen Zusammenhänge aber als eine relativ geschlossene Welt, die für mich kirchenfern aufgewachsenen Jugendlichen wenig Zugangsmöglichkeiten bot. Erfahrungen mit linksradikalen Kritikern der DDR, die ich bei illegalen Trampertreffen oder langen heftigen Diskussionsabenden in verschiedenen Wohnungen machte, waren wegen ihrer oft sehr dogmatischen und oberflächlichen Einseitigkeit ebenfalls nicht heimatgebend und die auch manchmal zu hörenden Bekenntnisse zu Menschenverächtern und Massenmordverantwortlichen wie Mao-Tsetung oder Stalin waren mir unerträglich.
Um meine Doktorarbeit schreiben zu können und meine Arbeit als Philosophielehrer zu behalten – ich hatte Frau und zwei Kinder – musste ich SED-Mitglied sein. Das hatte ich bisher erfolgreich verweigert trotz häufiger Einflussnahme von vielen Seiten an der Universität. Nun trat ich in diese Partei ein, auch aus der Illusion, dass man vielleicht „von innen heraus“ mehr verändern könne – in diesem Fall ein grandioser Irrtum. Ich geriet in eine Atmosphäre ideologischer und philosophischer Dumpf- und Stumpfheit und politisch verbrämter privater Intrigen und Machtspiele, die kafkaesk anmutete.
Bestimmend für diese Entscheidung war aber auch, dass ich beim Studium in Form meiner Seminargruppe eine Parteigruppe erlebt hatte, die Kraft ihres Zusammenhalts und ihrer Intelligenz erstaunlich vieles hatte bewegen, verweigern und öffentlich kritisieren können. So haben wir uns geschlossen geweigert, an der aberwitzigen befohlenen Aktion teilzunehmen, in Leipzig Aufkleber „Schwerter zu Pflugscharen“ von Jacken und Parkern abzuschneiden oder an den fast nordkoreanisch anmutenden Massenauftritten zum Sportfest im Leipziger Stadium als Publikumsstaffage teilzunehmen. Erstaunlich war: Nichts passierte.
Möglicherweise war diese Folgenlosigkeit aber auch dem Umstand geschuldet, dass außer mir nur noch einer in der Gruppe nicht für die Stasi gearbeitet hat. Das erfuhr ich aber erst 1991. Ebenso erfuhr ich da, wie mich einige der Stasimitarbeiter in unserer Gruppe in brenzlichen politischen Situationen vor ärgerem Schaden bewahrt haben. Diese und ähnliche sehr widersprüchliche und oft zunächst unverständliche Erfahrungen mit Menschen, die IM, OibE oder Agent im Westen waren, haben mich sehr genau hinschauen und zuhören lassen, wer mit welcher konkreten Lebensgeschichte in Stasigeschichten als Akteur verstrickt war. In den folgenden Jahren habe ich vor allem an diesen Geschichten erfahren, welche tiefe Einsichten das Christentum gefunden hat mit dem sehr schwierig zu lebenden Zusammenhang von Schuld – Reue – Vergebung – Neuanfang - Versöhnung.
Schöne neue Welt
In die sog. „Wende“ ging ich mit sehr ambivalenten Gefühlen und Gedanken, hin und hergerissen zwischen Freude über persönliche und politische Freiheitsgewinne und das Ende vieler Einschränkungen, Trauer über Verluste und Ahnung kommender Schwierigkeiten und unakzeptabler Verhältnisse.
Die Zeit in und nach der Wende waren Jahre intensiven alltagspraktischen, politischen und philosophischen Lernens, bis heute, ein Roman würde kaum zur Beschreibung reichen.
Zunächst versuchte ich, mich direkt politisch zu engagieren – eine unorthodoxe vereinigte Linke war damals meine Hoffnung. Der Traum war sehr schnell ausgeträumt. Er starb an der massiven Erfahrung von bornierter Sektiererei, von Machtgier und gewaltbereitem Ressentiment sowie dem Streit um Worte und Ideologeme statt Probleme. Ich machte außerdem die desillusionierende Erfahrung, dass ein großer Teil der Westlinken, mit denen ich sprach, auf manchmal erschütternde Weise unkritisch der DDR gegenübergestanden hatten, trotz aller Informationsmöglichkeiten. Hinzu kam das wenig erfreuliche, aber leider nicht seltene und immer wieder irritierende Erlebnis (auch aus eigenem Tun), dass es offenbar einen fast umgekehrt proportional zu nennenden Zusammenhang zu geben scheint zwischen hochmoralisch ausgepolsterten Weltverbesserungsattitüden und sittlichem Versagen in alltäglichen Kleinverhältnissen im Umgang mit den Nächsten in der unmittelbaren Arbeits- und Lebensumgebung. Zu viele Prediger des Guten lahmen moralisch in den Mühen der Ebenen.
Die abstrakte DDR-Verachtung, gedankenfreie Marxtöterei und selbstgefällige Siegerpose bei Vielen auf der rechten Seite war mir zumindest ebenso zuwider.
Danach gab es keine politische Gruppierung und kaum eine größere politische Aktivität, der ich mich mit gutem Gewissen bzw. überwiegender Zustimmung hätte anschließen können.
Bildung
Statt dessen schlug ich einen anderen politischen Weg ein - den der Mitarbeit an einer Bildungsarbeit, die sich nicht in nachfrage- und nutzenorientierter Ausbildung erschöpft und die zugleich auch politische Bildung mit demokratischer Orientierung sein will. Mein inhaltlicher und methodischer Schwerpunkt liegt dabei auf dem Philosophieren, insbesondere mit Jugendlichen.
So gründete ich zunächst nach einigen Suchbewegungen in der sich neu formierenden Bildungslandschaft zusammen mit 30 Jugendlichen in Thüringen den Jugendbildungsverein philoSOPHIA e.V. , den ich bis heute leite. Viele der damals 15-16jährigen jugendlichen Gründungsmitglieder sind heute noch dabei, inzwischen denken wir über das Philosophieren mit den Kindern unserer Gründungsmitglieder nach. Hier in diesem Jugendbildungsverein erfuhr ich den befriedigenden Luxus wirklich langfristiger und kontinuierlicher Bildungsarbeit mit jungen Menschen, von denen manche fast 20 Jahre Seminare besucht haben und immer wieder neue philosophisch Interessierte ansprachen, mitbrachten und die inzwischen z.T. selbst Seminare gestalten.
Besonders interessiert hat mich dabei immer die praktische Seite der Philosophie, also Philosophien von Lebenskunst und Lebenskönnerschaft seit der Antike. Daher habe ich auch eine Ausbildung zum Philosophischen Praktiker bei meinem langjährigen Lehrer und Freund Dr. Gerd B.Achenbach gemacht, dem vor Allen ich mein geistiges Ankommen im Westen verdanke.
Zunehmend stärker sind, auch durch ihn, religiöse und religionsphilosophische Fragen in mein Blickfeld gerückt. Das hat ein wenig auch mit den lauten Aktivitäten eines sog. „neuen“ a-theistischen bzw. human-istischen Fundamentalismus in unserer Gesellschaft zu tun, dessen Grundmuster ich aus SED-Zeiten all zu gut kenne. Auch das Auftreten der anderen religiösen Varianten dieser geistigen Engstirnigkeit und besonders deren menschenverachtende Wirkungen trieb mich zunehmend zur Beschäftigung mit religiösen Fragen.
Daher engagiere ich mich auch seit einigen Jahren in dem inzwischen bundesweiten Jugendbildungsprojekt „DenkWege zu Luther“, das innerhalb der Lutherdekade reformatorische, genauer deren freiheitliche religiöse Impulse über den Weg des philosophischen Nachdenkens mit Jugendlichen für die heutige Zeit prüfen und fruchtbar machen möchte.
Für diese praktische Wendung zur Bildungsarbeit waren neben meiner eigenen Bildungsfreudigkeit mindestens 3 Erfahrungen bzw. Einsichten maßgebend:
a) dass es nicht nur die materiellen und sozialen Unterschiede sind, die das erträgliche, friedliche, respektvolle Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Interessen und Lebensformen erschweren, sondern maßgeblich der Mangel an geistigen und moralischen Grundkompetenzen wie z.B. Verstehen wollen, Zuhören können oder eine der eigenen Irrtumsanfälligkeit bewußte Distanz zu sich selbst,
b) dass in der bundesdeutschen Gesellschaft mit ihrer allseits durchschlagenden ökonomistischen Grundorientierung der Bestand und die Entwicklung ihrer Demokratie, insbesondere ihre Freiheitsorientierung gefährdet wird, indem die nötigen kulturellen und Bildungsgrundlagen dafür verkümmern und entscheidende Legitimationsgrundlagen entzogen werden und
c) dass die moderne, wandlungsbeschleunigte, pluralistische Gesellschaft in historisch neuer Qualität die Individuen vor die sehr komplexe Wahl zwischen Führung und Geführtwerden des eigenen Lebens, sprich das Problem der „Lebenskönnerschaft“, stellt.
Die Erfahrungen von DDR, Wende und Nachwendezeit haben bei mir eine grundsätzliche Wertschätzung von Demokratie als politischer Form der Beteiligung möglichst vieler Menschen einer Gesellschaft an der Gestaltung ihres Zusammenlebens entstehen lassen. Entscheidend war auch hier die Maßstabsetzung und Lehre durch einzelne, mir nahestehende Menschen, die in ihrem politischen und privaten Alltag demokratische Haltungen praktizieren. Der AdB – Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten, für den ich einige Jahre als Ostreferent und Projektleiter gearbeitet habe, war dabei für mich als pluralistischer Verband der politischen Bildung ein entscheidender Lernort. Zugleich haben mir die Jahre seit der „Wende“ eine tiefe Skepsis gegenüber allen Großphantasien bezüglich der Einwirkungs- und Teilhabemöglichkeiten politischer Tätigkeit und Bildung gebracht. Nur scheinbar im Gegensatz dazu fand ich es einen der wichtigsten und erfreulichen Grundzüge einer Demokratie, dass sie es durch ihre institutionellen Sperren den Einzelnen weitgehend unmöglich macht, ihre jeweiligen partikularen Interessen direkt verallgemeinern zu können. Diese institutionelle Vermittlung von Partizipation und die korrigierende Systemträgheit haben mich dazu angehalten, nach stoischem Grundsatz genau zu prüfen, mit welchen (politischen) Tätigkeiten ich selbst angesichts der Kürze des Lebens meine Tage verbringe – grenzbewußte Gelassenheit und respektvolle skeptische Neugier auf fremde Positionen schätze ich heute deutlich mehr als veränderungsverliebten Aktivismus und die Kunst des Niedermachens und Verdächtigens im Schutze politisch korrekter Ressentiments.
Zum Ende
Politisch, oder gar demokratisch werden ist von höchst unterschiedlichen Einflüssen abhängig. Viele davon sind zufällig. Planbar und herstellbar ist eine Politisierung der Individuen ohnehin nicht, soll sie nicht Missionierung sein. Es können aber begünstigende, ermöglichende Bedingungen geschaffen werden, durch Politik selbst.
Am wichtigsten und zugleich utopisch: eine gesellschaftliche Atmosphäre, die, griechisch gesprochen, nicht die Idiotie des Privatlebens zum obersten Wert erhebt und aus dem Ökonomischen als Mittel den eigentlichen Zweck macht, sondern in der mit Selbstverständlichkeit Politik als eigenständige Gestaltungsmacht im Interesse der Allgemeinheit erfahrbar ist, an der zu partizipieren jede und jeder willkommen und gefragt ist und in der das Politische nicht von Experten und Bürokraten als privates Eigentum verwaltet wird.
Ein Klima, in dem es üblich und normal ist, dass öffentlich diskutiert wird, wohin wir als Gesellschaft eigentlich wollen, und warum wir dies überhaupt wollen, statt unbefragt der realsozialistischen Devise „Schneller, Höher, Weiter“ im westlichen Gewande zu frönen.
Last but not least: politisch zu werden und sich politisch zu qualifizieren, wird begünstigt in alltags- und zweckentlasteten Räumen von Bildung, wo denken, reden, zuhören, fragen, geistig experimentieren, spinnen, streiten, kritisieren u.v.a.m. gelernt, geübt und entwickelt werden kann, wo man den wichtigen geistigen Anregern aus vielen Zeiten und Kulturen begegnet, auf die man sonst vielleicht nie stößt und Personen, die durch ihr Dasein im Seminar zum Interesse an Allgemeinem und damit auch am Politischen im sokratischen und kirkegaardschen Sinne verführen.