Wendezeiten/Zeitenwende: Dissidenten als Zeitzeugen

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Wendezeiten/Zeitenwende im Jahr 1989/90: Dissidenten als Zeitzeugen

Karol Modzelewski, Jacek Kuroń: Offener Brief an die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei
Karol Modzelewski, Jacek Kuroń: Offener Brief an die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei

Das Projekt "Wendezeiten-Zeitenwende" wurde gefördert durch:




Templin Jacek Kuron lesen | philoSOPHIA e.V.


Jacek Kuron lesen


Wolfgang Templin



Zwischen 1973 und 1975 verwandelte sich eine Gruppe von Ostberliner Studenten und Absolventen der Philosophie in eine konspirative trotzkistische Zelle. Das Studium der Philosophie an der Ostberliner Humboldt-Universität, einer Eliteschmiede der DDR, stand selbstredend unter marxistisch-leninistischen Vorzeichen. Die Mitglieder der Gruppe, zu denen ich gehörte, begannen ihr Studium als glühende Marxisten und engagierte Mitglieder der SED. Intellektuelle Neugier, neue Lebens- und Lektüreerfahrungen, sicher auch die Arroganz gegenüber den platten Dogmatikern ließen einen Diskussionskreis entstehen, der sich sehr schnell abschottete. Zu der auf abenteuerlichste Weise beschafften und diskutierten Literatur gehörten die großen Renegaten des letzten Jahrhunderts, wie Arthur Koestler, Manes Sperber oder Ignazio Silone, gehörten die wichtigsten Autoren der westdeutschen und westeuropäischen Achtundsechziger Bewegung aber auch die ins Deutsche übertragenen Arbeiten osteuropäischer Dissidenten und Oppositionellen. Hinzu kamen neben Trotzki die Säulenheiligen der internationalen trotzkistischen Bewegung, wie Isaac Deutscher und Ernest Mandel.

Eines Tages landete auf diese Weise auch der „Offene Brief….“ Von Jacek Kuron und Karol Modzelewski auf unserem Lektüretisch. Ein knappes Jahrzehnt zuvor entstanden, war er für mich das erste politische Dokument der polnischen Opposition, mit dem ich mich auseinandersetzte. Die mit dem Brief verbundene Analyse stand für vieles von dem wonach wir damals suchten: Eine Kritik des realsozialistischen Systems von links und der Entwurf einer Alternative auf der Grundlage marxistischer Werte.

Wiara i Wina



Wer Jacek Kuron wirklich war, wie und wohin sich sein Leben und Denken entwickelte, wurde mir erst später vertraut. Im einzigen Teil seiner Autobiographischen Schriften, der bis jetzt in deutscher Sprache vorliegt- Glaube und Schuld – wird der Weg vom gläubigen Jungkommunisten zum innermarxistischen Kritiker und später unabhängigen Linken beschrieben. Ich konnte in vielen dieser Beschreibungen zeitversetzt Momente meiner eigenen Biographie wiederfinden. Welche Erfahrungen halfen dabei aufzuwachen? Wie sehr prägte die Familie, das häusliche Umfeld und die genauen Zeitumstände, in die man hinein gesetzt war? Wer neben einem machte die gleichen oder ähnlichen Erfahrungen und verdammte sich dennoch zu weiterer Blindheit, Anpassung und Opportunismus? Warum?

Jacek Kuron ragt mit seinen frühen und späteren autobiographischen Arbeiten aus einer Menge autobiographischer Literatur hervor, welche die Individuelle Auseinandersetzung mit dem Jahrhundertphänomen des Kommunismus zum Gegenstand hat. Es ist die Schonungslosigkeit der Selbstanalyse, die ihn auszeichnet, das Bewusstsein dafür, was Glaube, der zum Irrglaube, zum Götzenglaube wird, bewirken kann. Die Frage nach der eigenen Schuld dabei und der Möglichkeit damit umzugehen, wird ihn ein Leben lang umtreiben. Zugleich ist es eine tiefe Menschlichkeit, die Bereitschaft auf den Anderen zuzugehen und ihm das Beste zuzugestehen, ob im Jugendverband, an der Universität, im Alltagsleben oder in der Gefängniszelle. Überzeugungen und Werte, werden immer wieder in Frage gestellt, das Festhalten daran führt für Kuron nicht zum Dogmatismus und Fanatismus sondern ist mit dem Respekt für den Anderen und seine konträren Positionen verbunden.
Ob es die ersten Gefängnisjahre, die stürmische Zeit des polnischen März 68 oder der Beginn der „goldenen“ Gierek-Epoche ist, ich nehme bei Jacek Kuron einen starken Instinkt dafür wahr, wo künftige individuelle, gesellschaftliche und politische Herausforderungen liegen können, auf die er sich vorzubereiten sucht. Diese Herausforderungen kommen sehr schnell.

Zündet keine Komitees an, baut Eigene auf



In der DDR ist das Jahr 1976 untrennbar mit der Selbstverbrennung des Pastors Brüsewitz und der Ausbürgerung Wolf Biermanns verbunden. In Volkspolen wird 1976 zur Geburtsstunde des KOR. Zu Recht wurde das jüngste Buch von Andrzej Friszke über die Entstehung und Entwicklung KOR (Jacek Kuron und die Genese des KOR) preisgekrönt. Man kann es auch als zweiten Teil einer großangelegten Kuron-Biographie lesen. Vier Jahre vor dem Jahrhundertereignis der Solidarnosc, entfaltete bereits das KOR eine ungeheure internationale Ausstrahlungskraft. Die Wirkung auf die Formierung, der wenngleich schmalen, um die Karta 77 formierten tschechischen und slowakischen Menschenrechtsbewegung, auf die ungarische demokratische Opposition oder in die unter dem Zwangsdach der Sowjetunion zusammengesperrten Nationen hinein ist kaum zu überschätzen. Das gleiche gilt für die unter dem Dach der evangelischen Kirche existierenden Vorläufergruppen einer späteren DDR-Opposition . Aus der Vielfalt, der im KOR koexistierenden Individualitäten und Mentalitäten ragen in der internationalen Wahrnehmung und Diskussion zwei Namen hervor: Jacek Kuron und Adam Michnik. Ihre Essays, Artikel und Analysen werden in zahlreiche Sprachen übersetzt und nicht nur in linken Intellektuellenkreisen intensiv diskutiert. Bei aller Nähe zwischen beiden, werden auch hier die frappanten Unterschiede deutlich. Michnik der brillante Denker und Liebling der Salons, Kuron der Stratege und Volkstribun. Keiner vermochte so stark wie Kuron, kritische Intellektuelle mit den Arbeitermilieus zu verbinden. Aus einem Verteidigungs- und Hilfskomitee, erwächst das Model gesellschaftlicher Selbstorganisation, erwachsen die Keimzellen unabhängiger Gewerkschaften. Seine Aufforderung an die Arbeiter in Radom „zündet keine Komitees an, baut eigene auf“ hat prophetischen Charakter.

Landschaft nach der Schlacht



Der 13.Dezember 1981 – wir stehen kurz vor einem Jubiläum – schien allen Skeptikern und Zweiflern recht zu geben. Im Ostblock sei jeder Versuch einer Überwindung des Systems zum Scheitern verurteilt, ob als Aufstand, innerkommunistische Reformbewegung oder friedlicher Massenprotest. Jacek Kuron, andere Mitglieder des KOR und die Vertreter anderer Oppositioneller Strömungen wie des ROPCIO, hatten eine entscheidende Rolle für die Geburtsstunden und die kurzen Höhepunkte der legalen Solidarnosc gespielt. Sie wurden aber auch mit inneren Konflikten und Konkurrenzen konfrontiert, die sich in Hass und jahrzehntelange Feindschaft verwandeln sollten. Das KOR stand vor der Frage und Zerreißprobe, wie es seine eigene weitere Rolle nach dem Sieg der unabhängigen Gewerkschaft definieren sollte und entschloss sich zur Selbstauflösung. Die Tugenden von Toleranz und Pluralismus, die die verschiedenen Positionen und Weltanschauungen zusammenhielten, zeigten ihre Grenzen. Die andere Seite polnischer Geschichte und Mentalität offenbarte sich. Juden und Freimaurer waren auszumachen, der unsägliche Spruch von „einmal Kommunist, immer Kommunist“ machte die Runde. Kinder sollten für die Sünden und Irrtümer ihrer Väter und Mütter, Erwachsene für die Fehler ihrer Jugend büßen.

Jacek Kuron schildert in weiteren Teilen seiner Autobiographie, die Höhen und Tiefen dieser Auseinandersetzung, das eigene Verstricktsein darin, die Angst vor dem Scheitern aber auch den Jubel über den Erfolg. Und dann kommt die Nacht der Obristen, der Panzer, Internierungen und Schüsse. In den Gefängniszellen und Internierungslagern, in den Verstecken der Untergrund-Solidarnosc entbrennt die Diskussion darüber, was jetzt zu tun ist. Es entsteht das Bild einer „Landschaft nach der Schlacht“ so der Titel einer der wichtigsten Arbeiten Jacek Kurons in dieser Zeit. Auch er verfällt phasenweise dem Wunsch, jetzt das Heil in radikalen Aktionen zu suchen, weiß aber die ganze Zeit, dass es keine Rückkehr zur Wirklichkeit des alten Systems geben kann. Die Bestimmung der Solidarnosc-Bewegung als sich „selbstbegrenzender Revolution“ zeigt die tiefste Quelle der Überlebenskraft der „S“. Die Energie und den Anspruch einer systemsprengenden Revolution mit der Fähigkeit zum Kompromiss zu verbinden ist die größte Leistung der Solidarnosc-Akteure, die zum Runden Tisch hinführt. Von Fanatikern und Fundamentalisten verschiedener Couleur als Verrat und Schwäche diffamiert, wird die Konstruktion des Runden Tisches und die Möglichkeit der friedlichen Systemüberwindung zum Anstoß für den gesamten Ostblock.

Meine Suppe



Die weiteren Teile der Autobiographie werden kürzer und aphoristischer, bleiben aber ungeheuer spannend. Sie zeigen einen Jacek Kuron, der sich dem Abenteuer politischer Gestaltung aussetzt, zum Minister avanciert, sich mit Teilen seiner früheren Weggefährten überwirft und neue Verbündete findet. Der sich dabei jedoch im Innersten treu bleibt. Was kann die ökonomische Schocktherapie von Leszek Balcerowicz und seinen wirtschaftsliberalen Anhängern für Polen bedeuten? - Eine Strategie die Kurons alter Weggefährte Karol Modzelewski konsequent in Frage stellt, die von anderen ehemaligen Oppositionellen als bittere aber notwendige Therapie angesehen wird. Was wird aus dem linken Wert einer solidarischen Gesellschaft i n einer Realität, in der Gewinner und Verlierer immer heftiger auseinanderdriften, in der die Arroganz und Verantwortungslosigkeit großer Teile der neuen Eliten mit Händen zu greifen ist. Was wird aus der Intellektuellenpartei der UW und ihren politischen Gegenspielern auf der rechten Seite? Sind die Postkommunisten zu wirklicher Erneuerung fähig?

All diese Fragen treiben Jacek Kuron in den letzten anderthalb Jahrzehnten seines Lebens um und er nimmt dazu Stellung. Erneut sieht er sich mit eigenen Irrtümern konfrontiert, sucht nach Möglichkeiten die sozialen Härten und Ungerechtigkeiten des Übergangs zu lindern und wird zum tragikomischen Mann mit der Kochmütze, der Suppe ausschenkt.

Bemerkenswert sind die letzten Jahre. In Jacek Kurons Kritik an sozialer Ungerechtigkeit, an Intoleranz und Blindheit für das gesellschaftliche Ganze, mischt sich Verbitterung. So wenn er seine alten Freunde, die in den Eliten angekommen sind und die Vorzüge der Freiheit preisen fragt: „Freiheit wovon, darin sind wir uns sicher einig, aber Freiheit wozu, ist die viel wichtigere Frage. Wozu wollt ihr die errungene Freiheit nutzen und wer soll in welcher Weise daran teilhaben können. Was ist aus unseren gemeinsamen Träumen geworden“. Sollen die Armen mit Almosen und Alimentation bedacht werden oder gilt es in einer freiheitlichen Gesellschaft konsequent gegen die Armut anzugehen.

Bemerkenswert ist auch – und hier ist Kuron weit mehr als Sozialpolitiker – welcher hohe Stellenwert dem Nachbarland Ukraine und dem gesamten Osten in der politischen Prosa Jacek Kurons eingeräumt werden. Der Traum von einer freien, unabhängigen und demokratischen Ukraine, von Beziehungen, in denen die wechselseitig zugefügten Wunden heilen können, bleibt für ihn bis zum Schluss präsent.

Jetzt liegt es an uns



Kann man von einem politischen Vermächtnis Jacek Kurons sprechen, dass in die heutige neue Situation Polens und Europas hinein reicht? Ich meine ja. Neben den Visionen und Alternativentwürfen seiner letzten Jahre, der entscheidenden Rolle welcher er einer demokratischen Bildung und dem Eros der Pädagogik dabei gab, sind es einige entscheidende Einsichten und Positionen. Einsichten und Positionen, die den Strategen und Politiker Jacek Kuron in aller Originalität zeigen. Gerade im Milieu der Klubs Krytyka Polityczna, die sich Jacek Kuron zum Ahnherrn erkoren hat und seine Werke herausgibt, sollten sich bestimmte seiner Einsichten und Positionen bewähren können. Es ist zum einen der Nachdruck, den er auf den notwendig konstruktiven Charakter von Neuansätzen legt, welch revolutionärer, sprengender Elan auch immer dahinter steckt. Seine berühmte Aufforderung an die polnischen Arbeiter „Zündet keine Komitees an, sondern schafft eigene“ ist die Absage an Zerstörungswut und fundamentalistischen Furor, die für Veränderungen in Demokratien schon gar nicht taugen und nur den Fundamentalisten im anderen Lager Nahrung geben. Es ist weiter eine grundlegende Erfahrung Kurons, sich den Mühen der Politik auszusetzen und nicht in der Attitüde des Intellektuellen zu verharren, der Konzepte entwirft und Diskussionen entfacht, sich für deren Realisierung aber nicht hergeben will. Und es ist endlich die bekannte Szene, in der Jacek Kuron darüber sinniert, auf welche Weise es zu historischen Sternstunden, wie der Begründung des KOR oder der Solidarnosc kommen konnte. Er spricht davon, dass die Geschichte nicht viele solcher Momente und Gelegenheiten bereithält und die große Kunst darin besteht, einen solchen Moment zu erkennen, darauf vorbereitet zu sein und dann aber auch zu handeln. Wann, wenn nicht jetzt, gilt das für eine zu erneuernde polnische Linke, die Kolleginnen und Freundinnen der Krytyka Polytyczna eingeschlossen.
Jetzt liegt es an uns.