Wendezeiten/Zeitenwende: Dissidenten als Zeitzeugen

Ein Projekt des philoSOPHIA e.V. [wendezeiten.philoPAGE.de]


Wendezeiten/Zeitenwende im Jahr 1989/90: Dissidenten als Zeitzeugen
Stephan Krawczyk und Freya Klier in ihrem Stück "Steinschlag" 1987<br><br>Bild: Privatarchiv Stephan Krawczyk
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Stephan Krawczyk und Freya Klier in ihrem Stück "Steinschlag" 1987

Bild: Privatarchiv Stephan Krawczyk

<br>Stephan Krawczyk auf dem Titelblatt des Spiegel Heft 5/1988
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Stephan Krawczyk auf dem Titelblatt des Spiegel Heft 5/1988

Das Projekt "Wendezeiten-Zeitenwende" wurde gefördert durch:




Stephan Krawczyk Aus dem Roman Steine hüten | philoSOPHIA e.V.


„Steine hüten“


Stephan Krawczyk



Noch heute, nach mehr als elf Jahren, werde ich von mir Unbekannten gefragt, wie das damals eigentlich war: Ich sei doch im Knast gewesen und dann in den Westen abgeschoben worden - bestimmt hätte man mich schon oft gebeten, mal ausführlich über die Dinge zu sprechen, und sicher habe ich mich auch schon häufig wiederholen müssen - aber sei nicht zu verstehen, dass man selten die Gelegenheit hat, einem gegenüberzustehen- oder zu sitzen, den man nur aus dem Fernsehen kennt? „Wie lange waren Sie denn im Gefängnis?“
Mit meinen fünfzehn Tagen kann und will ich nicht angeben. Ich wiegele ab: „Nicht viel. Zwei Wochen. Es war eine Erfahrung.“ Gerade Frauen sagen dann oft: „Zwei Wochen! Das würde ich nicht aushalten.“

Wie dünnhäutig diese Frauen sind, zeigt folgende Begebenheit: Tirana, die Hauptstadt Albaniens, hatte mich zum Gesang gerufen. Mir wurde ein Dolmetscher zugesellt, der mich vor dem Konzertabend auf drei ältere Herren hinwies, die gehört hätten, ich sei in Deutschland als Politischer im Gefängnis gewesen und mich deshalb kennenlernen wollten, weil sie diese Erfahrung in Albanien ebenfalls gemacht hatten. Drei heitere kleine Männer winkten mir vom Saaleingang zu. Nicht dass ich mich mit meiner bescheidenen Tageszahl auf die Begegnung gefreut hätte - natürlich wurde danach zuerst gefragt. Auf die Übersetzung meiner Antwort reagierten sie zuerst, als hätten sie sich verhört. Dann lachten sie sehr verschmitzt und einer fragte: „Ja, lohnt sich das denn überhaupt?“ Mein Dolmetscher sagte mir auf dem Rückweg, dass ich gerade 117 Jahren Knast gegenübergestanden habe. Die Drei seien stadtbekannt, in der Öffentlichkeit zeigten sie sich nur gemeinsam - wegen des albanischen Rekords. Vom Knast bleibt die weggenommene Zeit. Wie dünnhäutig mag ich ihnen erschienen sein, meinen kläglichen Versuch eingesperrt zu werden, überhaupt erwähnt zu haben.

Wie dünnhäutig ich vor elf Jahren wirklich war, weiß nur mein Rechtsanwalt, an dessen Brust ich im Knast geweint hatte, die, wie sich später herausstellte, eine recht verlogene Brust gewesen ist - in ihr schlug das Herz des Spitzels Wolfgang Schnur - ein Freund meiner Familie. Ein reichliches Jahr bevor sich mir das Gefängnis geöffnet hatte, saß er plötzlich bei uns am Kaffeetisch. Er wirkte konzentrierter, als es der Anlass erforderte. Sein vornehmes Gemisch aus Berlinerisch und dem Dialekt des Nordens nahm mich, neben der zurückhaltenden zuvorkommenden Art, für ihn ein. Die leise, dringliche Sprache, so als ob er nie alles sagen konnte, rechnete ich den schwierigen Zeiten an: Bedrohung hing über meiner Abenteurerexistenz wie ein Bienenstock am Bindfaden. Schnur bot mir nach der ersten Tasse seine Anwaltsdienste und seinen Beistand als Christ an, nach der zweiten eilte er zu seinem wahren Herrn, dem Führungsoffizier. Hätte ich nicht gedacht, hätte keiner gedacht - unser Wolfgang, wie der sich für uns den Arsch aufriss - kein Wunder, dass er trotz des Kaffees häufig gähnen musste, was man seinen treuen Hundeaugen ansah, nicht seinem geschlossenen Mund.

Wäre das Verhältnis zu meinem Anwalt unpersönlich gewesen, hätte ich im Knast nicht geheult. So dünnhäutig war ich gar nicht. Er hat mich in die Arme genommen, was soll man machen? Ein Spitzel muss auch mal Mitleid haben. Danach duzten wir uns. Will man mehr in dieser Abgeschiedenheit? Zigaretten hatte er mitgebracht.
Es ist dumm oder gut gelaufen - wie er plötzlich am Kaffeetisch saß, saß ich plötzlich im Westen. Reichlich zwei Jahre später erfuhr ich aus der Ferne von Schnurs innerem Reichtum - alles besaß er doppelt - vielleicht blieb sein Mund beim Gähnen geschlossen, um die doppelte Zunge zu verbergen. Er hörte auf den Decknamen Torsten.
Zu dieser Zeit besuchte ich regelmäßig einen Bauernhof. Dort lebte ein namenloses Kalb, dessen müde Augen mich an meinen Verteidiger erinnerten. Fortan hieß es Torsten. Ich durfte Torsten anpflocken, begab mich aus dem Radius seines Kettenkreises und hielt etwa folgende Rede: „Mein lieber Torsten! Ich danke dir, dass du mir in der Bedrängnis die Brust geboten hast. Für mehr habe ich dir nicht zu danken, ansonsten bist du ein Arsch. Wie kann man nur so verlogen sein?“

Torsten antwortete mir mit einem Vers von Cernuda: „Wahrheiten und Lügen sind Vögel die fortziehen, wenn die Augen sterben.“ Sein Muhen klang wie die Klage über das Gras - er fraß.
„Torsten, du kannst mir jetzt nicht mit Metaphern kommen - was du dir geleistet hast, war unter aller Sau!“
Mit vollem Maul griff er zu Dante: „Sieh hin und geh’ vorüber.“ Er muhte, das sei sein Leben - wären die Verhältnisse andere gewesen, hätten wir nie miteinander zu tun gehabt. Was würde ich überhaupt herumstreiten - ich sei doch lebendig, nicht wie andere.
„Nicht zuletzt wegen euch Verrätern mussten die ins Gras beißen!“
„Es gibt Gute und Böse. Wenn alle gut wären, gäbe es das Gute nicht.“ Torsten war Jenseits jeglichen Eingeständnisses, er erklärte die Welt mit der Schnauze. „Ich hatte meine Gründe, du hattest deine Gründe, geh’ mir von der Weide.“

Was sollte ich mich mit diesem Rindvieh herumstreiten. Es war alles gesagt: Verräter, Gras beißen, Arsch. Mit Worten kann man dem Ungerechten sowieso nicht beikommen. Es hat eine dicke, knochenharte Haut. Doch wie weich sie von Torsten überspielt wurde, deutet auf eine Begabung hin, die unter Theaterverhältnissen geschätzt wird. Er hat sich einen Bart wachsen lassen und macht noch heute mit dubiosen Geschäften auf sich aufmerksam. So ging er letztens mit einem Koffer voller gefälschter Wertpapiere in eine Bank, um sich auszahlen zu lassen. Noch nach seiner Festnahme tat er so, als hätte alles seine Richtigkeit - ein Mann ohne Furcht und Tadel - mit Fotos von sich und dem Einheitskanzler: Fast wäre Torsten ein ganz hohes Vieh geworden - ohne Schnur und Kette.




Handschellen hießen im Stasi-Knast nicht so, wie sie vom Bürgertum genannt werden - nichts sollte daran erinnern, dass sich der Sozialismus derselben Fesselungsmethoden bedient wie sein Vater, der Kapitalismus. Dem sozialistischen Gefangenen wurde eine Schließacht um die Handgelenke gedrückt. Man sperrte ihn auch nicht in die Zelle, wie dies der Klassenfeind tagtäglich menschenverachtend praktizierte, sondern in einen Verwahrraum. Die gitterlosen Fester waren mit Glasbeton zugemauert. Unten hatte man einen Schlitz freigelassen, dünn wie zwanzig Seiten Papier, dem ich mich nachts, wenn meine beiden Verwahrkameraden schliefen, zuneigte.
Frische Luft gab es von neun Uhr bis neun Uhr zwanzig. Diese Maßnahme, dem Bürgertum als Hofgang geläufig, wurde von den Wortchirurgen der Idee Aufenthalt im Freien genannt. Genau betrachtet bestand das Freie aus drei mal vier Metern Betonfußboden, von vier Meter hohen Mauern umschlossen. Darüber war Maschendraht gespannt. Man trat durch eine Stahltür ein und lief eckige Runden, bis die Fußgelenke schmerzten. Das Freie klebte Parzelle für Parzelle an der Gefängnismauer. Auf dem Laufsteg zwei Meter oberhalb der Tür patrouillierte ein Posten mit MPi. Wenn er vorbeikam, glotze er herab, als würde ich beißen.

In der ersten Gefängnisetage verwahrte man die Männer, in der zweiten die Frauen. Acht Uhr fünfzig rumpelte es durch die Zellendecke. Die Frauen wurden ins Freie geschlossen. Gern wäre ich mit meiner spazierengegangen - seit einer Woche wohnte sie über mir.
Zwischen den Mauern thronte Stille. Außer in der Zelle und beim Verhör, das Vernehmung hieß, herrschte Schweigepflicht. Das lauteste Gefängnisgeräusch kam vom Schlüssel mit seinen beiden Möglichkeiten. Die Gefangenen wurden von kurzen Befehlen einzeln über die Gänge manövriert: Gehen! Stehenbleiben! Nach links! Nach rechts! Kam man vom Verhör an die Zelle zurück, hatte man während des Aufschließens mit dem Gesicht zur Wand neben der Tür zu stehen. Ich bekam keinen anderen Häftling zu Gesicht, nur die beiden in der Drei-Mann-Zelle, die bis vor wenigen Tagen eine Zwei-Mann-Zelle war. Meinen Antrag auf Einzelzelle begründete ich dummerweise mit der Wahrheit, für die eine Fehlleistung verantwortlich ist: Ich kann nur Wasser lassen, wenn ich den Raum mit niemandem teilen muss. Folgerichtig wurde die Zelle gedrittelt. So kam es, dass ich freiwillig auf den Aufenthalt im Freien verzichtet habe. Während die anderen Runden rannten, verrichtete ich mein Geschäft. Zehn nach neun rumpelte es wieder durch die Decke - die Frauen kamen zurück. Knapp zehn Minuten waren sie mit den Männern unterm schalloffenen Himmel gewesen.

Wahrscheinlich hatte man dem einquartierten Dritten, einem Schmarotzer am Volkseigentum, Milde in Aussicht gestellt, falls er mich bespitzeln würde. Er war der Einzige, der sich meinen Gedanken an den morgigen Sonntag hätte in den Weg stellen können - seine Augen hielten den Blick gar zu unstet. Der Zweite füllte den Scheuereimer mit Wasser und hantelte. An einem Berliner Grenzübergang hatte er seinen Personalausweis gezeigt. Er rechnete damit, vom Westen spätestens in einem Jahr freigekauft zu werden. Selten holte man ihn zum Verhör, den Dritten dagegen täglich.

In der Nacht stand ich lange am Schlitz. Gerhard, der Schmarotzer, schnarchte, Uwe, der Freizukaufende, gurgelte, mein Nachtgeschäft, gelungen, die Luft, furzgeschwängert - alle zwanzig Minuten näherkommende Stiefelschritte, hinlegen, schlafend stellen, Licht, ein Auge am Spion, sich entfernende Stiefelschritte, weiteratmen.
Beim Sonntagsfrühstück eröffnete ich der Notgemeinschaft, mich einmal allein im Freien aufhalten zu wollen. Uwe fragte, ob ich etwas vorhätte, Gerhard hielt sich die Ohren zu. Der Satz: „Die eigene Frau im selben Gefängnis ist hart“, stammte von ihm. Darauf hatte Uwe gesagt: „Wieso? Da kann sie keinen Blödsinn machen.“

Der Schlüssel knackte. „Raustreten zum Aufenthalt im Freien.“ Ich trat allein auf den Gang. Drei Meter hinter mir dirigierte der Schließer. „Stehenbleiben.“ Mit der fünften Tür schloß er den tränenschönen Himmel auf. Die zwanzig Meter Kopfsteinpflasters erinnerten mich an den Gang zur Exekution, dann fiel die Stahltür der Parzelle hinter mir zu. Ein dumpfes Geräusch von Gummisohlen auf Beton hing über der Anlage - das Stillegebot wurde nicht davon gestört. Zweimal stolzierte der Posten am Himmelssieb vorbei, bevor ich den Kopf in den Nacken legte und Zwiesprache mit meinem Vater hielt, der sein Lebtag nicht geschrieen hatte, auch nicht im tiefsten Fall.
Als wollte ich meinen Kopf aus der Stille ziehen, bin ich zwischen den wachsenden Mauern zum Einatmen in die Hocke gegangen. Zweimal stellte ich mich wieder, atmete aus und horchte. Ich sah ein abgeerntetes Getreidefeld, der Februar drängte mir in die Lungen, die Hände formten einen Trichter um den Mund. Die noch nie durchbrochene, waffenbewehrte, dem Befehl erwachsene befehlende Stille wurde unter dem Namen mit zwei offenen Vokalen begraben.
Ich hatte während der letzten Jahre geglaubt, gleich danach eine Liebeserklärung gerufen zu haben, aber je länger ich mich besinne, um so deutlicher höre ich: „Freya, halt durch!“ Dass ich sie liebe, habe ich erst gerufen, nachdem sie eben dies geantwortet hatte. Da stand der Posten schon über mir und zog die Maschinenpistole durch. „Sein Sie ruhig!“ Die berühmten drei Worte schrie ich ihm ins Gesicht. Die Stahltür wurde aufgerissen. Der Schließer schnauzte. Keine Minute später saß ich freudedurchflutet auf meiner Pritsche und versank im süßen Gefühl, lebendig zu sein.
Bis zur Nachtruhe hatte die Stille ihre Macht verloren. In der Zimmerdecke klopften Stuhlbeine, auf dem Gang hallten Flüche, aus dem Schlitz drangen Anwesenheitslaute. Uwe klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Das hat man überall gehört.“ Gerhard holte man ausnahmsweise sonntags zum Verhör.
Für die nächsten Tage wurde mir der Aufenthalt im Freien gestrichen, eine Strafe, die mich wirklich nicht treffen konnte.




Andi aus dem thüringischen Sibirien ist das größte Urviech, das ich kenne. Er ist der einzige von all meinen Bekannten, der sein Gedärm schon in den Händen hatte - anlässlich eines seiner sechs Fluchtversuche über Thüringens grüne Grenze. Insgesamt ist er sieben mal losgegangen: Das siebte Mal kam er über den Versuch hinaus. Fragt man Andi nach dem Grund für seine Beharrlichkeit, antwortet er: „Ich wollt’ ne’ Harley. Das war mein Traum. Hörst du, wie sie klingt? So klingt nur ‘ne Harley. Die konnten mich hier nicht halten.“ Andi greift sich tief in die Delle unter seinem achtbaren Bierbauch, der geteilt ist, wie die Verlängerung des Rückens. „Ich war früher Schwimmer. Das war alles Muskeln. Und als sie mich mit der MPi erwischt haben, ist das aufgerissen wie nichts. Ich hab’ mein Gedärm in der Händen gehalten. Die sind rausgequollen. Ich hab’ sie geknetet. Die fassen sich an wie beim Tier.“ Sein Kopf fällt nach vorn, wiegt sich in einer langsamen Verneinung, vielleicht solange, wie zwischen Schuss und Begreifen. „Siebenhundert Splitter hab’ ich in den Lungen. Aber ich lass die mir nicht rausnehmen. Das ist mein Körper. Ich hab’ nichts anderes - sonst haben mich immer die Hunde erwischt. An den Hunden, dacht ich, komm’ ich nie vorbei. Im sechsten Knast hab’ ich’s endlich erfahren - im sechsten Knast.“ Das Geheimnis richtet er an seinen Bauch: „Man muss sich nackt ausziehen.“ - „Wie?“ frage ich, „beißen dann die Hunde nicht?“
Andi reißt seine erstaunlich blauen Augen weit auf und betont die Antwort ehrfürchtig wie ein Orakelpriester: „Ein nackter Mensch!“
Vom Gartenstuhl unter Thüringens sternklarem Junihimmel zeigt er in Richtung Hessen. „‘ne Harley - hörst du, Alter?“ Er richtet sich auf wie ein Turnierreiter. Seinem Mund entströmt ein tiefes Brummen. Er steigt ab. „Aber das kostet viiil Geld - ich konnt’ sie nicht halten.“
Andi aus Sibirien kommt nach Mitternacht im Unterhemd einfach auf den Hof gelatscht, wo die halbe familiäre Runde mit mir bei geistigen Getränken plaudert. „Jetzt hänge ich wieder in Sibirien rum.“ Er trinkt einen Schluck aus der vollen Bierflasche, da ist sie halbleer. „Die sind so blöde in Sibirien. Mit den kannst du doch nichts anfangen. Die wissen gar nicht, was Träume sind. Für die gibt’s nur Geld - die sind abhängig.“ Nach dem zweiten Schluck ist die Flasche leer. „Die denken, ich bin der Depp - aber in Wirklichkeit sind die die Blöden - mein Nachbar - der ist so blöde.“ Er schweift scheinbar ab:. „Was die heute für Spektakel machen, wenn ‘ne Bombe gefunden wird. Da sperren die ganze Straßen ab. Was ich in Sibirien für Bomben gefunden hab’ - ‘ne Zweizentnerbombe hab’ ich auf die Veranda von meinem Nachbarn gelegt.“ Er hält seine Arme als würde er einen wie sich umarmen. „Als mein Nachbar frühs rausgekommen ist, hat der geschrieen: ‘Andi, räum’ die weg, räum’ die weg!’“
Seine Augen funkeln so blau, dass es einer Hälfte der halben Runde im Bäuchlein zu kribbeln beginnt. Andi, der Mann mit dem Traum, für den er zu sterben bereit war, spricht sie fortwährend mit falschem Namen an. Sie fragt, ob er an Gott glaubt? Andi glaubt nicht nur an ihn, sondern hat all die Knastjahre über immer dasselbe Buch gelesen. Wenn er aus der Bibel zitiert, klingt seine Stimme, als wäre sie ihm in den Rachen gekippt, als würde der mächtige Vater hinter ihm stehen. Ich nehme mein Bandoneon und singe: „Hin zum Fluss Jenissei führ’ mich weg in die Nacht, wo die Kiefer zum Stern reicht so stumm, denn ich bin nicht von wölfischem Blut und das macht, wer mir gleichkommt, nur der bringt mich um.“ Der russische Dichter Ossip Mandelstam hat diese Verse geschrieben. 1938 ist er in Stalins GULAG erfroren. Andi sagt: „Es ist ein großes Glück, wenn man so singen kann - und, wie heißt das Ding, das so traurig klingt?“ Ich sage: „Harley.“




Bitterfeld stinkt wieder. Früher zu DDR-Zeiten stank Bitterfeld entsetzlich - man schloss alle Luftkanäle ins Wageninnere, wenn man durch diese Geruchskloake auf der Autobahn hindurch musste. Anfang der neunziger Jahre hörte Bitterfeld plötzlich auf zu stinken. Wer an Bitterfeld auf der Autobahn vorbeifuhr, ließ die Luftkanäle geöffnet. Nun, am Ende der neunziger Jahre, stinkt Bitterfeld wieder. Nicht so aggressiv wie zehn Jahre zuvor, doch schon wieder so, dass man, auf der Autobahn, alle Luftkanäle ins Wageninnere schließt.
Der Umgang des an Bitterfeld Vorbeifahrenden mit der Belüftungsanlage gleicht der Bewegung des gesamtdeutschen Geistes während der letzten Dekade: Zu - Auf - Zu.




Als die Mauer zum Streitross wurde, worauf sich Tausende Freiheitskämpfer geschwungen hatten, weilte ich in Frankfurt am Main, um in der Alten Oper meinen Brecht-Abend aufzuführen. Ich erinnere noch genau, wie mir ein Zeitungsreporter beim anschließenden Essen zuraunte, ich hätte Perlen vor die Säue geworfen, und ging meine Geliebte anrufen, was mir nach derlei Vertrautheiten am geeignetsten schien. Da fragte sie mich, ob ich wüsste, was ich ihr nicht glauben würde: Die Berliner Mauer sei offen!
Schön, da bräuchte ich nach Tournee-Ende nicht nach Berlin fliegen, sondern könnte mit dem Auto fahren. Knapp zwei Jahre Transitverbot lagen hinter mir - seitdem mich mein Vaterstaat ausgeschwitzt hatte. Im Hotelzimmer plünderte ich die Minibar und sah fern, nach Berlin, wo der Bär zur Vereinigungshymne steppte: „So ein Tag, so wunderschön wie heute...“ All die lieben Gefährten der Dissidenterei waren zu sehen, manche in Studiosesseln, manche im Getümmel, während ich in „meinem“ Hotelbett an der letzten winzigen Flasche Gorbatschow nuckelte. Angeheitert schlief ich ein - und misstrauisch. Zwei Tage später sollte sich mein Gefühl bewahrheiten - die Mauer war noch gar nicht richtig offen: jedenfalls nicht für mich.

Nach dem letzten Konzert im Bayrischen fuhr ich in meinem bequemen Westwagen auf der Autobahn Richtung Hof, um die Heimat zu riechen - ich würde über das Hermsdorfer Kreuz fahren, ach was, ich würde tanken, vielleicht wäre der alte Ebs an der Tanksäule - wie damals, vor meiner Ernennung zum Staatsfeind Nr.1. Gegen drei Uhr nachts fuhr ich an den Grenzübergang. So leicht, wie ich den Posten des Westens passierte, drohten die Grenzanlagen des Ostens düster. Einzig im Häuschen zur Passkontrolle schien schmächtig die Schreibtischleuchte. Ein Arm holte meine Papiere unters Licht. Es dauerte und dauerte - als würde er meinen Pass mit der Kneifzange umblättern -, bis er endlich zum Telefon griff. Wenige Minuten später legte jemand den Hauptschalter um: Die Anlage erstrahlte. Aus allen Fenstern des rechteckigen Wohnblocks, schon im DDR-Inneren, bleckte Licht, aus der Hautür eilte ein Offizier mit vielen Sternen auf seiner Uniformjacke, die er bis zur Schranke geschlossen hatte. Mag er zwei, drei Stunden geschlafen haben - wecken wollte ich ihn nicht: Eine standesgemäße Begrüßung wäre doch gar nicht notwendig gewesen. Er trat an das bequem zu öffnende Autofenster heran - sein Mund hatte Weißes in den Winkeln: „Herr Krawczyk,“ er stammte aus dem Sächsischen, „Ihre Durchreise durch das Gebiet der DDR ist nicht erwünscht.“ - „Schweinerei“, rief ich, meine er, hier könne noch irgend etwas umgestürzt werden? Er konnte nur wiederholen, was er schon gesagt hatte: „Ich kann nur wiederholen, was ich schon gesagt habe.“ Wütend stieß ich meinem Wagen den Rückwärtsgang ins Getriebe. Die Westgrenzer konnten mir nicht weiterhelfen, jedenfalls nicht in die Richtung, aus der ich gerade gekommen war.

In den ersten drei Wochen nach der Maueröffnung wiederholte sich dieses Übel dreimal - immer riss es einen höheren Offizier aus dem Schlaf. Es war mir schon peinlich.

Endlich, am 2.12.1989, wurde auch ich von der Freiheit geküsst, die für mich bedeutete - als Negativ im ganzen Positiven -, meinen Fuß auf die ostdeutsche Erde zu setzen, zum Beispiel, um meine Mutter wiederzusehen, die ich zuletzt vor einem reichlichen Jahr in Ungarn getroffen hatte - welch großer deutscher Umweg zu den Lieben.
Als einfacher Bürger der BRD wäre ich auch dann noch nicht betretensbefugt gewesen - allein, man hatte mich zu einer Versöhnung zwischen den DDR-Liedermachern und den in den Westen geschwitzen DDR-Liedermachern eingeladen. Welchen Grenzübergang ich nehmen sollte, wurde mir mitgeteilt: Museumsstraße.

Bequem saß ich in der blechernen Warteschlange und hörte Radio. Diesmal dürfte es gelingen - niemanden würde ich wecken, kein sächsischer Traum müsste zerbersten, vergessen das Surren des Rückwärtsgangs. Ich war noch gar nicht mal bis zum Schalter gerollt, drei Autos standen noch vor mir, da kam ein Offizier an mein Fenster und bat mich auszusteigen. Warum sollte ich nicht aussteigen, ich bin schon oft ausgestiegen - ich stieg also aus. Er nahm Haltung an, der muntere Offizier, ganz rot waren die Lippen - einer, den man beneidet -, legte die flache, wirklich sehr flache Hand kurz ans Mützchen und formte seinen Mund zu des Alphabets Eröffnung: „Ahh, Herr Krawczyk, schön dass sie wieder da sind!“
Lieblich rappelte die Museumsstraße.




Es bedarf der richtigen Zeit, um eine Geschichte zu erzählen. Wer mündlich erzählen kann, braucht Zuhörer, die müssen zusammengekommen sein, er kann nicht irgendwann anfangen. Der Schreibende muss diese äußeren Bedingungen verinnerlichen - wobei kann ich mir jetzt zuhören, ist alle Spannung, die dem mündlichen Erzähler von den Ohren kommt, jetzt in mir, damit sich in der Geschichte all die Fäden wiederfinden, die zu ihr geführt haben, kann ich mein Leben damit zubringen, sie zu erzählen, oder muss ich in drei Stunden fertig sein, kann ich den Stoff schon tragen, trägt der Stoff mich und wie lange, wohin würde er alleine reisen?
Ich wollte die folgende Geschichte schon vor sechs Monaten erzählen, als mir das zentrale Wort von einer Spielfilmwerbung entgegenprangte. Nun aber ist es mir wiederbegegnet und diesmal mit der mündlichen Beschreibung eines Gesichtsausdrucks des damit Bezeichneten, des mit diesem Wort gefangenen: „Staatsfeind Nr.1“.

Dass meine Verhaftung nicht von meinem Nein abgehangen hatte, ist verbürgt. Danach brachte man mich nach Rummelsburg in eine Sammelzelle im Keller. Dort wurden die gesammelt, welche am gleichen Tag aus der Demonstrationssuppe des 17. Januars 1988 herausgefischt werden sollten. Zum Mittag waren die Zellen voll. Welch ein Spaß. Ich wusste gar nicht, was für ein verwegener Vogel ich bin: Im Vorraum des Kellers klingelte jedes mal das Telefon, wenn ein neuer Gefangener zum Verhör nach oben geschafft werden sollte. Irgendwann habe ich angefangen mit dem ersten Ton „Telefon!“ zu brüllen - bis eine Polizeiwache rangegangen war, hatte die ganze Gefangenschaft brüllend eingestimmt. „Telefon!!!“ Oder: Eines meiner Lieder im Dreivierteltakt befasste sich unmittelbar mit dem Polizeistaat, es ging um das Berliner Stasihauptquartier in der Keibelstraße. Der Refrain hieß: „Frag doch mal’n Polizist, was ‘n Polizeistaat ist, und zur Antwort kriegst du dann, alle scheißen alle an, alle scheißen alle an.“ Die Wiederholung war wie der Schluss eines deftigen Walzers zu singen - konsequent nach oben gequetscht. Mehr als eine halbe Kehlenhundertschaft lernte die einfache optimistische Melodie. Ich sang die Strophen dazwischen - Stimmung, drohende Polizei -, wir haben bis zum Ende gesungen, den letzten Refrain wiederholt. Gegen Abend wurde ich ins Verhörzimmer geführt, der Verhörer sagte, ich sei verhaftet, nun ginge es in Stasihaft nach Hohenschönhausen. Ich glaube, gesagt zu haben: „Wie sie wollen.“ Großmäulig war ich schon nicht mehr. Er stellte mich dem hohn-schönen Gefängnisdirektor vor, einem voluminösen Mann, dessen Hobby womöglich darin bestand, mit anderen voluminösen Männern in den Morgenstunden auf Jagd zu gehen. Die Szene fand neben der Verhörzimmertür statt, trister Ölsockel hinter dem Gefängnisdirektor - der musste sich nicht aufblasen. „Sie kommen jetzt zu uns.“
Damals trug ich Winters einen Parka von der amerikanischen Armee, der sich vor anderer Kleidung durch große Taschen auszeichnete - darin ruhten meine Hände.
„Nehmen Sie die Hände aus den Taschen, wenn ich mit Ihnen rede!“
Ich sah ihn an, wie ich meinen Vater, als er mir eine Ohrfeige gegeben hatte, angesehen haben mag, so dass er mir eine zweite auch noch gab, und eine dritte. „Aber ich rede nicht mit Ihnen.“
Da war nur noch ein Blick zu sehen: „Pass auf, du kleiner Scheißer.“ Dann packten gewaltige Hände von hinten meine linke Hand, meine Musikerhand, meine filigrane Hand, die zärtlich ins Lächeln weisen möchte, und drückten sie in einen spritzen Winkel zum Unterarm. So wurde ich abgeführt, Treppen hinunter auf den Hof, ich konnte gar nicht so folgsam schnell gehen, wie ich schreien musste, rotes Entsetzen, den Rohen hinter mir sah ich nicht, dann war es, als würde ich fliegen, eine Leiter hinauf in einen Kasten. Kurz lag ich demütig still, dann trat man mich hoch, in eine winzige Zelle, groß wie der Kühlschrank für einen Vierpersonenhaushalt - Eisen wurde um mein loderndes Handgelenk gedrückt, die Tür fiel zu, Schritte, Stille: „Hallo?“
„Ruhe!“

Wer mich damals gesehen hätte, würde niemals gedacht haben, dass ich Staatsfeind Nr.1 gewesen bin. Meine Züge werden eher das Gegenteil ausgedrückt haben: Wehrlose Ohnmacht, ohnmächtige Wehrlosigkeit - man kann es herumdrehen, eine Nr.1 wird es nicht. Wenn sie dich erst haben, ist es aus.
„Hast du gehört“, fragte Hugo, ein Nachtbekannter, „die haben den Öcalan gefangen.“
Wegen meines geringen Medienkonsums stehe ich in der Gunst, bewegende Neuigkeiten aus aller Welt erzählt zu bekommen. Sie hätten Öcalan in Kenia gefangen, irgendeine Sondereinheit wäre hingeflogen. „Die haben ihn geholt.“ Im Flugzeug sei er gefilmt worden. „Als sie ihm den Sack vom Kopf gezogen hatten. Wie der geguckt hat, der wusste doch nicht, wo er ist und was ihm passiert, der hat geguckt, wie aus dem Schlaf geschreckt, ganz wirr und verletzlich.“
Ich fragte nach dem Kommentar. Er sei aus dem türkischen Fernsehen übertragen worden und ganz hämisch gewesen. „Hier seht ihn euch an, den Staatsfeind Nr.1, diesen kleinen Scheißer.“ Dass einer so vorgeführt wird, hatte Hugo noch nicht gesehen. „Vor allen Dingen, da steht ja ein Volk dahinter.“ - „Die räumen auf“, rief ich, lauter als die Musikbox plötzlich rief, „im nächsten Jahrtausend wird damit Schluß sein. Ein Nadelstreifen sieht einfach besser aus.“ Aber mein Herz weinte um den Bruder im feindlichen Wort.


Steine hüten
Verlag Volk & Welt, Berlin, 2000

(Auszug aus dem Roman mit freundlicher Genehmigung des Autors)