Wendezeiten/Zeitenwende: Dissidenten als Zeitzeugen

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Wendezeiten/Zeitenwende im Jahr 1989/90: Dissidenten als Zeitzeugen

Barbara Sengewald (ehem. Barbara Weisshuhn), Jg. 1953; Betriebswirtin; in den 80iger Jahren Engagement in oppositionellen Frauengruppen, die sich DDR- weit vernetzten; in Erfurt Mitarbeit in der "Offenen Arbeit" der Evangelischen Kirche; 1989 Mitbegründerin des "Neuen Forum" des "Neuen Forum" und der "Initiative Frauen für Veränderung" in Erfurt; Beteiligung an der erstmaligen Besetzung einer Bezirksverwaltung des MfS, um die Aktenvernichtung zu stoppen; heute Mitarbeit in der "Gesellschaft für Zeitgeschichte", in der sich u.a. ehemalige Mitglieder des Erfurter Bürgerkomitees um die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte Thüringens und die Einrichtung einer Bildungs- und Gedenkstätte in der ehemaligen Stasi-U-Haftanstalt bemühen; lebt in Erfurt.

Bezirksverwaltung des MfS in Erfurt
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Bezirksverwaltung des MfS in Erfurt

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Informationen zur Stasi-Besetzung vom 4. Dezember in Erfurt inklusive ihrer Vorgeschichte, zur Geschichte des Bürgerkomitees Erfurt sowie Dokumente und Bilder finden sich auf der Website
gesellschaft-zeitgeschichte.de

Das Projekt "Wendezeiten-Zeitenwende" wurde gefördert durch:




Interview mit Barbara Sengewald | philoSOPHIA e.V.


Interview mit Barbara Sengewald (ehem. Weisshuhn) über den 04. Dezember 1989


(interviewt von Matthias Sengewald)

Hinweis: Von Barbara Sengewald ist zusätzlich zu diesem Interview ein Text über die Besetzung der Bezirksbehörde des MfS in Erfurt zu lesen. Beitrag lesen »

(BS): Am Montag, dem 04. Dezember 1989, ging ich ganz normal zur Arbeit. Gleich früh rief mich Elisabeth Kaufhold in meiner Arbeitsstelle bei der PGH Maler-Nord an und sagte mir: „Wir müssen jetzt zur Stasibezirkszentrale gehen, um zu verhindern. dass Akten vernichtet werden“. Überraschend war das für mich nicht, weil in der Nacht Flugblätter verteilt wurden, woran ich selbst mit beteiligt war. Auf Grund der Flucht von Schalck-Golodkowski wurde befürchtet, dass weitere Sachen ins Ausland verbracht werden und überhaupt, wir wollten einfach aufpassen. Das Volk wurde aufgerufen aufzupassen, dass Akten nicht vernichtet und andere Sachen wie Geld, Vermögen, Antiquitäten etc. ins Ausland verbracht werden. Ich ging zu meinem Chef, also zum Leiter von Maler-Nord und sagte ihm, dass ich jetzt losgehen müsse, es war so gegen 7.30 - 7.45 Uhr früh. Ich war gerade erst gekommen, da musste ich schon wieder los, weil ich die Stasi mit besetzen wollte. Mein Chef wunderte sich auch nicht, denn einige Aktivitäten von mir waren ihm schon bekannt, es ging ja schon eine geraume Weile so und das war inzwischen schon relativ normal. Aus heutiger Sicht mag das vielleicht etwas komisch klingen, aber er sagte: „Na gut okay, aber melden Sie sich bitte, wie das weitergeht“. Der dachte natürlich, ich bin einen ganzen Tag weg. Also, ich konnte gehen und das war kein Problem. Ich kam dann in der Andreasstraße vor dem Haupteingang der BV an. Da waren bereits einige Frauen versammelt, nicht viele.

Wer war bereits dort, weißt Du das noch?

(BS): Nein, das weiß ich nicht mehr genau. Also natürlich Elisabeth Kaufhold, Claudia Bogenhardt, die Frauen von der Frauengruppe, die man eben erreichen konnte. Es waren auch Männer da, aber überwiegend die Frauengruppe. Man merkte, dass die Frauengruppe bereits untereinander informiert war. Ohne Telefon bzw. nur auf Arbeit Telefon, das ist ja damals nicht so einfach gewesen, sich gegenseitig zu informieren. Wir beratschlagten nun, wie wir vorgehen sollten. Es war schon an die Tür geklopft und mit dem dort Wachhabenden ein paar Worte gewechselt worden, aber weiter waren wir noch nicht gekommen. Jedenfalls waren wir uns einig, dass ein Teil der Gruppe versuchen sollte, rein zu kommen und zu gucken was da passiert. Inzwischen war auch bekannt geworden, dass die Schornsteine qualmten, so dass es also sehr nahe lag, dass dort wirklich Akten verbrannt wurden.

Wieso lag das nahe, es gab doch immer viel Qualm zu DDR-Zeiten?

(BS): Ja aber nicht in der Stasi, man wusste irgendwie, dass die Gasheizung hatten. Und deswegen konnten dort keine Schornsteine rauchen. Außerdem war es dunkler Qualm, anders als bei einer Gasheizung.

Wie ging es dann weiter?

(BS): Wir beratschlagten. Der größere Teil blieb vor Ort, um zu versuchen, rein zu kommen. Die müssen unbedingt daran gehindert werden, weitere Akten zu verbrennen. Die Akten müssen geschützt werden. Wie macht man das? Na ja, irgendwie versiegeln. Und irgendwie von offizieller Stelle. Wir sind dann darauf gekommen, wir müssten den Bezirksstaatsanwalt holen. Natürlich gleich oben angesetzt, nicht etwa irgend einen Staatsanwalt. Wir kannten sowieso keinen Staatsanwalt, aber es musste eben der Bezirksstaatsanwalt sein. Angelika Schön und ich, fuhren dann gemeinsam mit Carsten Nöthling, der auch da war, und der damals als Hausmeister bei der Stadtmission arbeitete und demzufolge das Auto der Stadtmission zur Verfügung hatte, zum Bezirksstaatsanwalt in die Cyriakstraße. Wir wussten, dass auch andere Frauen unterwegs waren, um andere Stellen zu informieren, wie z.B. die Stadt.
Irgendjemand hatte erzählt, dass Kerstin Schön und noch jemand, wer das war, Dass wusste ich damals nicht genau - ich glaube von Tely Büchner war noch die Rede - die Stadt informieren wollten. Es sollte noch jemand von offizieller Stelle mitkommen, denn es war ja im Grunde genommen so, dass wir rechtsstaatliche Elemente einforderten, womit die staatlichen Stellen völlig überfordert waren. Das hatten sie nicht erwartet.

Was meinst du jetzt mit rechtsstaatlichen Elementen?

(BS): Ja, indem wir eben nicht einfach reinstürmen und irgendwelche handgemachten Siegel anbringen wollten. Dies verlangten wir eben von der Staatsmacht. Es war eigentlich absurd, die eine staatliche Stelle aufzufordern, zu verhindern, dass eine andere Unerlaubtes tat, nämlich Akten zu verbrennen.

Mir fällt immer wieder auf, dass niemand die Frage gestellt hat: „Warum müssen wir eigentlich die Akten schützen?“

(BS): Nein, es war klar, dass die Akten aus Berichten über uns bestehen und dass da einfach in Leben eingegriffen wurde, wenn jemand im Knast war oder jemand entlassen wurde oder einfach keine Arbeit mehr bekam, so wie es mir selbst ein Stück passierte. Oder bei Anderen, wo man vorher schon wusste, dass gespitzelt worden war und dass jemand irgendwelche Berichte darüber verfasst haben musste. Wir wussten ja damals nicht, dass derjenige IM hieß. Es war klar, dass Spitzel in allen oppositionellen Gruppen existierten. Damit lebte man ja. Und diese Akten waren einfach wichtig, weil das unser Leben ist.

So wie dann später dieser Slogan geprägt wurde „Meine Akte gehört mir“.

(BS): Ja und außerdem war klar, dass die Stasi ein Apparat zur Disziplinierung der Bevölkerung war, die haben ja auch Knast und Gefängnis gehabt. Ja dass da schlimme Dinge passiert sind. Und das musste einfach erhalten bleiben. Das musste man einfach aufdecken. Wir waren ja dabei, alles aufzudecken.

Mit welchem Ziel aufdecken?

(BS): Dass es nicht wieder passiert. Ja genauer haben wir uns das nicht überlegt. Wir wollten die Stasi auflösen, das war ja vorher schon bei den Demo's immer gerufen worden: „Stasi in die Volkswirtschaft“, oder „Stasi in die Produktion“. Das war ja klar, dass diejenigen jedenfalls, die die Bevölkerung bespitzelt haben..., dass das einfach nicht mehr sein darf, dass diese Abteilung aufgelöst wird. Über Auslandsspionage haben wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachgedacht.

Wie ging das dann weiter?

(BS): Ich bin mit Angelika und Carsten in die Cyriakstraße gefahren. Irgendjemand wusste, wo der Bezirksstaatsanwalt sitzt, also sind wir dorthin, sind einfach reingegangen, die Treppe hoch, an allen Sekretärinnen und Türen vorbei, haben dann eben dort oben, wo er saß, gesagt, wir wollen den Bezirksstaatsanwalt sprechen. Er hieß Sander. Na ja wir mussten dann erst einmal im Flur warten, aber das war gar nicht so schrecklich lange. Wir sind dann reingelassen worden. Der hat uns erst einmal, na ja ganz normal..., wir sollten Platz nehmen, in riesigen schwarzen Ledersesseln. Das war sehr komfortabel eingerichtet und er saß hinter seinem Schreibtisch und wir weiter unten in den Ledersesseln. Also schon diese Konstellation. Er thronte hinter seinem Schreibtisch und wir dort unten. Und wir haben ihm also gesagt, was los ist, dass in der Stasi Akten verbrannt werden und dass wir das verhindern müssen und, dass er jetzt einfach als Staatsanwalt mitkommen müsse. Staatsanwalt, weil ja dort Straftaten..., also unserer Meinung nach sind das Straftaten gewesen, was die Stasi gemacht hat. Ist ja auch so und deswegen eben Staatsanwalt. Und er müsse mitkommen, sozusagen als Staatsanwalt sagen, das muss hier aufhören. Räume versiegeln, ich weiß nicht, ob wir das schon gesagt haben. Ich glaube eher nicht. Soweit haben wir noch nicht gedacht.

Wie hat der reagiert?

(BS): Also , er hat sich das erst einmal angehört und hat gar nichts gesagt und dann, er sei da nicht zuständig. Weil, er nur für zivile Dinge zuständig ist und Stasi zur Staatsmacht gehört, so eine Art Militär und deswegen meinte er, ein Militärstaatsanwalt...

Die bewaffneten Organe...

(BS): Ja bewaffnete Organe genau, ich kam jetzt nicht drauf, das sind so die alten Begriffe, die mir nicht so schnell wieder einfallen. Und deswegen musste das der Militärstaatsanwalt machen. Aber das hat lange gedauert, bis er das sagte. Der hat uns irgendwie hingehalten, gesagt: „Jetzt muss ich erst einmal telefonieren“. Und dann ist er mal rausgegangen und dann ist er wieder reingekommen. Angelika hat ihn dann gefragt, also wir haben gefragt, ob er noch eine Waffe hat, weil wir natürlich auch Angst hatten. Also wenn die bewaffnet sind, dann könnten die ja auch schießen. Das war irgendwie nicht eine vordergründige Angst, das konnten wir uns eigentlich nicht vorstellen. Das war mehr so eine organisatorische Klärung, um der Angst vorzubeugen. Also organisatorisch zu klären, dass bestimmte Dinge dann eben nicht passieren. Irgendwie war das dann so, dass wir gesagt haben, wenn er noch eine Waffe hat, dann soll er die uns jetzt geben. Na der wird sich ins Fäustchen gelacht haben. Er sagte nein, sie sind entwaffnet worden vor ein paar Tagen, mussten alle ihre Waffen abgeben. Er hatte bestimmt noch eine. Also da bin ich überzeugt davon. Ich meine, das muss man sich mal überlegen: wir stellen die Frage, ob er eine Waffe hat und wenn er eine hat, dann soll er sie uns geben, ja. Ich weiß nicht, was wir damit gemacht hätten? Keine Ahnung. Also es war jedenfalls eine totale Hinhaltetaktik. Bis er eben dann rausrückte, der Militärstaatsanwalt sei zuständig.

Hattet ihr den Eindruck, dass er schon vorher informiert war? Oder hat er sich erst während eueres Gesprächs informiert?

(BS): Nein, ich hatte den Eindruck, dass er sich erst während unseres Gesprächs informierte. Das Telefon klingelte mehrfach. Wie wir heute wissen, hatte General Schwarz ihn angerufen und gesagt: “Diese Runde haben wir verloren.“ Das ist so gewesen. Das hat Schwarz gesagt. Der war Leiter der Bezirksverwaltung der Stasi. Und in dem Moment waren wir anwesend. Also er ist in unserem Beisein angerufen worden und ihm ist das gesagt worden, so dass der also wusste, aha, er kann jetzt hier nicht weiter machen, er muss jetzt mit uns irgendein Arrangement treffen. Und ich denke auch, dass der Rat des Bezirkes ihn angerufen hat. Die anderen, nämlich Kerstin und Tely, die beim Rat der Stadt abgeblitzt waren gingen dann zum Rat des Bezirkes, um dort mit jemandem zu sprechen. In dieser Zeit wird man sich schon gegenseitig informiert haben, natürlich. Und dann eben gesagt haben, okay dann muss eben ein Militärstaatsanwalt hin. Als Sander uns mitteilte, dass der Militärstaatsanwalt zuständig sei, war dieser schon auf dem Weg in die Andreasstraße.
Es verging bestimmt über eine Stunde. Und als wir das erfahren haben, sind wir natürlich gleich los, haben ihn stehen lassen, sind mit Carsten zurückgefahren zur Andreasstraße und haben dort erfahren, dass schon eine Gruppe drin ist. Ob das eine oder zwei Gruppen waren, das weiß ich nicht. Aber es war so gegen 10 Uhr. Viel kann da noch nicht passiert sein. Und wir haben vorne geklopft. Es war auch so, dass Kerstin gerade zurückgekommen war. Kerstin Schön und wir haben an die Tür - na nicht nur geklopft, es war schon etwas lauter. Da kam einer raus und wir sagten, wir gehören auch zu der Gruppe. Wir kommen gerade vom Bezirksstaatsanwalt und der Militärstaatsanwalt soll schon hier sein, wir müssen jetzt hier rein.
Ja und dann sind wir auch rein. Sind eigentlich ohne Komplikationen reingelassen worden, offenbar weil wir vom Bezirksstaatsanwalt kamen. Ich meine, das sind solche Floskeln, wo jeder kleine Diensthabende stramm steht. Es waren da aber doch mehrere Gruppen unterwegs. Ich wusste das zu dem Zeitpunkt noch nicht. Ich dachte, es wäre nur eine Gruppe und da war auch Gaby Kachold dabei.

Es war ja in der DDR so, dass man immer wieder, selbst mitten auf der Straße von Volkspolizisten angehalten werden konnte und man dann seine Personaldokumente vorlegen musste, sich also identifizieren musste. Mir fällt bei den Berichten auf, dass niemand danach gefragt worden ist. Habt ihr euch beim Staatsanwalt, beim Reingehen in die Stasiverwaltung in irgendeiner Weise ausgewiesen oder identifiziert?

(BS): Nein, haben wir nicht gemacht. Wir hatten wirklich das Gefühl, wir sind jetzt diejenigen, die hier das Sagen haben und wir brauchen uns nicht auszuweisen. Und die natürlich auch nicht. Also ich meine, wenn die da sitzen, und da steht Sander, Bezirksstaatsanwalt dran und der ist da drin, da nimmt man an, dass er das auch ist. Nee, dieses Gefühl war vorbei, dass wir hier diejenigen sind, die immer doch mehr oder weniger ängstlich oder verunsichert sind oder so. Wir waren diejenigen, die agierten und nicht mehr nur reagierten.

Gut, ihr ward dann drinnen und da war eine große Gruppe? Vielleicht kannst du die Namen noch einmal zusammentragen? Würden sie dir jetzt einfallen?

(BS): Na ja, nein das kann ich nicht. Weil ich heute weiß, dass da noch eine andere Gruppe unterwegs war. Zum Beispiel warst du da mit dabei im Keller. Ich war an dem ersten Tag nicht im Keller und habe keine geschredderten Akten oder Asche gesehen, sondern ich war in einer Gruppe, wo eben Gaby Kachold dabei war, Kerstin Schön war dabei, Angelika Schön, die ja mit mir zurückkam, Carsten Nöthling. Andere fallen mir jetzt nicht ein. Gaby Kachold fällt mir deswegen ein, weil ich mit ihr in diesen Computerraum gegangen bin. Also Computerraum, das war einfach ein Raum, wo ein Rechner stand. Das war ein riesen Apparat. Wir wussten ja nicht, wie das alles funktionierte. Wir wussten nur, es gibt Computer und verlangten, dahingehen zu können u. a. war da auch ein Fernschreibraum. Uli Scheidt muss da auch dabei gewesen sein. Denn der hat das auch erzählt. Wir verlangten, es soll jetzt in Berlin angerufen werden und man soll das einmal ausprobieren, diese gesonderte Leitung. Wir gingen natürlich davon aus, da gibt es gesonderte Leitungen, ein gesondertes Telefonnetz. Und das haben die dann auch gemacht und da kam eben dieses Fernschreiben, was es heute noch gibt aus Berlin: „Erfurt kriegt keine Antwort mehr“.

Sozusagen als Rückmeldung aus Berlin?

(BS): „Erfurt kriegt jetzt keine Antwort mehr“, oder so ähnlich. Ich weiß das jetzt nicht mehr genau wörtlich. Und auf der anderen Seite war es so, dass Gaby Kachold, die ja auch dort in der Untersuchungshaft gesessen hatte, ein Jahr im Gefängnis, u. a. in Hoheneck. Das ist schon noch einmal heftiger für sie gewesen als für uns, denen so etwas nicht passiert ist. Die hat dann wirklich gesagt, sie will jetzt ihre Akten sehen. Die war richtig wütend und sehr emotional geladen. Das war in der Gruppe für alle verständlich. Das war klar, dass sie das jetzt so machen muss. Sie hat immer wieder gesagt, sie will jetzt ihre Akte haben. Ihre Akte, da ist ihr Leben drin, das gehört ihr.

Und hat sie sie gekriegt?

(BS): Ach wo, nein, natürlich nicht. Ach damit: „das geht nicht, das ist so kompliziert“. Nein, nicht das geht nicht, nein! „Wieso, es gibt keine Akte!“ So Ausflüchte eben. „Es gibt doch keine Akte über eine Person!“ Weiß ich jetzt nicht mehr so genau.

Kannst du noch einmal schildern, wie das ablief? Was ihr da noch so alles gemacht habt?

(BS): Ja wir sind da rumgelaufen, durch Flure gegangen, uns wurden ein paar Zimmer gezeigt, wir haben so eine Art Führung gemacht.

Mit wem?

(BS): Na mit irgend so einem Stasimenschen. Weiß ich nicht, wer das war.

Was für einen Dienstrang hatte der?

(BS): Das weiß ich nicht. Mit Diensträngen kenne ich mich nicht aus. Da habe ich keine Ahnung. Habe ich noch nie gewusst. Und dann war es so, man traf auch die Anderen. Es war dann so, Gruppen gingen durch's Haus. Man merkte das richtig. Man begegnete sich auch. Viele waren dabei, die man nicht kannte. Also ich erinnere mich, Herrn Peterknecht habe ich auch gesehen. Und Leo habe ich gesehen. Und irgendwie war es dann so, dass es dann hieß, es sollte im Speisesaal oder Kinosaal mit der Leitung der Bezirksverwaltung darüber gesprochen werden, wie es jetzt weitergeht. Und da war Uli Scheidt auch der, der als Wortführer auftrat. Also es war uns klar, wir müssen jetzt sehen, dass hier nichts mehr passiert. Das hieß automatisch, wir müssen das Ganze bewachen. Ich war dann bei dieser ersten Begegnung mit dabei. Es wurde erstmals über eine Bürgerwache gesprochen. Ich weiß nicht, ob wir den Begriff da schon benutzt haben. Jedenfalls, dass jetzt Leute hier bleiben sollten und dass versiegelt wird. Der Militärstaatsanwalt war auch da. Ich weiß noch, dass Uli sagte: „Das hier muss versiegelt werden und hier muss ein Siegel hin…“ usw.
Wir mussten jetzt irgendwie sehen, wie wir hier das bewachen können. Das hat dann maßgeblich Uli Scheidt organisiert. Inzwischen war es schon Mittag geworden, ich musste erst einmal nach Hause gehen, weil meine Tochter in der ersten Klasse war. Die war gerade erst in die Schule gekommen. Und dann habe ich organisiert, weil ich ja wusste, wir haben jetzt viel Arbeit. Wir müssen jetzt viel machen. Ich habe organisiert, wo Maria nachts schläft. Die hat die nächsten Tage dann immer woanders geschlafen. Bei einer Freundin, damit ich Zeit hatte. Und dann bin ich wieder los ins Rathaus. Das war dann schon am Nachmittag, ich kann mich an die Uhrzeit nicht mehr genau erinnern. Wir haben versucht, im Rathaus einen Raum zu bekommen, wo wir so eine Art Bürgerbüro einrichten konnten. So haben wir es dann auch genannt, Bürgerbüro. Im Rathaus hatte das zunächst nicht geklappt. Wir haben dann einen Raum in der Wohnungstauschzentrale übernommen. Das war an der Seite des Rathauses, also am heutigen Benediktplatz, wo sich jetzt die Erfurt-Information befindet. Da oben drüber, bekamen wir einen Raum und eine Telefonnummer. Wir haben das Büro eingerichtet und aus dem Predigerseminar kamen Schüler, die den ersten Telefondienst übernahmen.
Diese Schüler übrigens, wie auch andere an dem Tag - es war ja Dezember und auch kalt – haben den Leuten, die an der Andreasstraße standen..., es wurden ja dann auch immer mehr und mehr, Suppe ausgeschenkt, andere haben Tee gebracht. Von gegenüber kamen Anwohner, die das gesehen hatten, mit Isolierkannen und brachten uns warme Getränke. Irgendwie war das schon sehr beeindruckend, wie da alle, also wie plötzlich auch die ganze Bevölkerung zusammenhielt und sich gegenseitig unterstützte. Jeder das was er konnte, ja. Das merkte man eben auch im Bürgerbüro. Die einen haben gesagt, o.k. ich mache mal eine Stunde. Vor allem auch bei der Bürgerwache, meldeten sich freiwillig unglaublich viele Menschen und boten ihre Mitarbeit an.

Wir haben dann gleich ein Flugblatt entwickelt: Aufruf zur Bürgerwache.

Darin stand, was wir gemacht haben, dass die Stasi besetzt werden muss, dass die Aktenvernichtung gestoppt werden muss, und dass da eine Wache installiert werden muss.
Das ist dann wohl auch über den Rundfunk gelaufen. Das weiß ich jetzt nicht mehr.

Wer hat denn das gemacht?

(BS): Also, wer verantwortlich war für dieses erste Flugblatt, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich da mitgemacht habe. Ich glaube auch, mit unterschrieben zu haben.

Und wer hat die Bürgerwache organisiert?

(BS): Das hat Ulrich Scheidt gemacht. Das war ja in der Andreasstraße, das ist ja direkt in der Bezirksverwaltung organisiert worden. Wir haben das Bürgerbüro organisiert.
Im Bürgerbüro haben wir das dann so organisiert, dass sämtliche neuen Parteien oder Vereinigungen und auch ein paar alte so wie die CDU oder auch LDPD, außer der PDS, die noch SED hieß, für einen bestimmten Zeitraum verantwortlich waren und mit ihren Leuten dieses Büro abgedeckt haben. So dass immer jemand im Büro war. Auch die ganze Nacht über.
Dieses armselige eine Telefon ist wirklich heiß gelaufen. Es haben unglaublich viele Menschen angerufen, sind vorbei gekommen und haben irgendwelche Zettel gebracht: „Dort ist eine konspirative Wohnung und dort müssen Sie sich mal kümmern, der kommt mir komisch vor und der hat immer...“. Das ging dann manchmal ein bisschen in die Richtung: „Na den konnte ich noch nie leiden, der ist vielleicht bei der Stasi gewesen“. Aber wir haben erst einmal alles aufgenommen. Wir haben uns ein Buch angelegt, wo alles aufgeschrieben wurde und sind vielen Hinweisen auch nachgegangen. Wir haben Gruppen gebildet, die ausschwärmten und bestimmten Hinweise nachgingen, die uns besonders brisant erschienen. Wie z.B. auch eine Gruppe zum Flughafen ging. Es gab viele Gerüchte, die zunächst eigentlich völlig unglaubwürdig schienen, aber wie wir heute wissen, war das gar nicht so abartig.

Was für ein Gerücht?

(BS): Zum Beispiel eben das Gerücht, dass Akten nach Rumänien geschafft werden, mit Flugzeugen. Deshalb sind einige zum Flughafen gegangen. Oder unterirdische Bunker. Dass hier und da irgendwelche Bunker seien wurde gemeldet. Da sind auch Leute hingegangen und wurden z. T. fündig. Ich glaube nach Bienstedt, Bienstedter Warte, und im Steigerwald. Vielfach wurden auch konspirative Wohnungen gemeldet. Das war etwas schwieriger, da konnte man nicht einfach so reingehen, da wusste man noch nicht, wie wir damit umgehen.

Also ihr habt schon praktisch gleich am ersten Tag entdeckt, dass die Stasi konspirative Wohnungen eingerichtet hatte?

(BS): Ja die haben's so nicht genannt, sondern es wurde uns gesagt, dass da Wohnungen seien, die nicht richtig bewohnt sind, aber ab und zu da jemand zugegen sei. Solche Sachen wurden uns mitgeteilt, ja. Auch in der ersten Nacht schon. Ich habe die ganze Nacht dort zugebracht.

Und du sagst, teilweise waren es auch denunzierende Sachen, über wen eigentlich?

(BS): Na ja, nein, die meisten waren ernsthafte und wirklich besorgte Mitteilungen, klar, von Leuten, die sich wirklich einen Kopf gemacht haben, jetzt können wir endlich diese ganze Krake aufdecken.

Kannst du sagen, wieviel?

(BS): Nein das kann ich nicht sagen. Es ist einfach so ein Eindruck gewesen.
Es war z. B. so, es kamen Leute aus einer Apotheke und sagten, also jetzt müssen wir das hier loswerden. Leo ist Spitzel. Leo Gräser, heißt der überhaupt Leo? Herbert Gräser, Spitzname Leo, den wir ja alle kannten. Der in der Offenen Arbeit ein und ausging usw. und an dem Tag ja voll dabei war, ist Spitzel. Wir dachten, also es gibt Leute..., das haben wir nicht geglaubt. Und da war die damalige Freundin von Leo, die war auch mit hier im Büro. “Die wollen den nur schlecht machen und wollen den loswerden“. Keiner hat's geglaubt. Das ist z. B. so etwas, wo man so emotional erst mal das Gefühl hat, das ist jetzt eine Denunziation. War's nicht, die haben das gewusst, die haben das geahnt, wie auch immer. Es war ja richtig. Das hat sich dann herausgestellt.

Ein Jahr später.

(BS): Na ja nach Aktenöffnung. Das heißt, manches wusste man vorher. Wir haben ja dann Berichte gelesen und Leo schrieb immer klein, alles klein. Das wusste man. Und die Berichte waren auch so. Und somit war klar, wer das war.
Ja irgendwann bin ich dann nach Hause gegangen, ins Bett gefallen. Ich bin nicht in die Stadtmission, weil ich dieses Bürgerbüro mit organisiert habe. Ich weiß, dass in der Stadtmission dann so eine Art größere Zusammenkunft war, wo klar war, dass sich da so eine Art Bürgerkomitee gründen soll. Ich weiß jetzt nicht, ob es da schon so genannt wurde. Für mich war es so, dass ich am nächsten Tag erstmal wieder ins Bürgerbüro gegangen bin und geguckt habe, was los ist. Mich informiert habe, wie die Nacht war usw. und dann wieder in die Andreasstraße ging, weil ich wusste, dort ist wieder eine Zusammenkunft mit den Leitern, also mit den Verantwortlichen, um zu gucken, wie es jetzt weiter geht. Was nun mit der Stasi passiert, mit den Leuten. Und da war dann auch Matthias Büchner dabei, der ja am 04. Dezember nicht dabei war, weil er in Berlin oder gerade zurückgekommen war. Das kann ich jetzt nicht mehr so aus dem Kopf sagen. Es war jedenfalls so, dass irgendjemand am Nachmittag im Rathaus für uns den Sitzungssaal organisiert hatte, und dass wir dort die erste konstituierende Versammlung des Bürgerkomitees durchführten, am 05.12. nachmittags.

Und da war der Begriff auch schon geboren?

(BS): Und da war meiner Ansicht nach der Begriff schon da, ja. Davor waren wir, wie gesagt, in der Andreasstraße, haben verhandelt, wie es weitergeht.

Was ist da rausgekommen?

(BS): Ja, das weiß ich nicht mehr. Was rausgekommen ist, ist nachvollziehbar anhand des Verlaufes wie es weiterging. Dieser Regierungsbeauftragte Bernhard Schenk tauchte dann schon auf.

Wann tauchte der auf?

(BS): Der war am 05.12. schon da, nachmittags irgendwann, oder Mittag schon.

Das war ja schon die Regierung von Modrow.

(BS): Ja das war Modrow. Am Nachmittag fand die konstituierende Sitzung statt. Wir haben diese Gremien gebildet, also das Bürgerkomitee an sich. Das paritätisch mit jeweils fünf Personen aus einer Vereinigung, einer Partei, einer neuen Oppositionsgruppe oder auch aus anderen Konstellationen, wie z.B. Offene Arbeit, oder parteilose Bürgerinnen und Bürger zusammengesetzt war. Immer waren fünf dabei.

Und der Bürgerrat?

(BS): Auch der Bürgerrat war eine völlig paritätisch zusammengesetzte Geschichte, aus jeder Fraktion Einer. Das war das übergeordnete Gremium, das die Bürgerkomiteesitzungen vorbereitete und in der Zwischenzeit Entscheidungen traf. Die Bürgerwache war ein Organ des Bürgerkomitees, aber das ist ja alles nachzulesen. Und dann gab es noch das bereits erwähnte Bürgerbüro.

Wie geht es mit dem Bürgerkomitee weiter?

(BS): Ja das Bürgerkomitee saß in den nächsten Tagen täglich zusammen. Jeden Tag hielten wir eine Sitzung nach der anderen ab. Alles das, was der Bürgerrat z. B. in der Nacht ausgehandelt hatte, wurde am nächsten Tag im Bürgerkomitee bekannt gegeben und vom Bürgerkomitee mehr oder weniger auch umgesetzt.

Die Sitzungen waren öffentlich?

(BS): Ja, natürlich. Die waren öffentlich. Die PDS durfte auch teilnehmen, hatte aber kein Stimmrecht, also damals noch SED. Die haben das auch mal angefragt. Da hat das Bürgerkomitee darüber abgestimmt und die Mehrheit war dafür, dass sie teilnehmen können und Rederecht haben, aber nicht mitstimmen dürfen.

Wohingegen die anderen Blockparteien ja Stimmrecht hatten?

(BS): Die hatten Stimmrecht, ja. Zumal es auch die Leute waren, die auch bei den Demos schon dabei waren. Manche kannte man schon als Reformen voranbringende Menschen. Das da natürlich auch viele IM's im Bürgerkomitee waren, darüber haben wir eigentlich gar nicht so nachgedacht. War ja aber so, es hat sich dann bei einigen auch herausgestellt.

Hat das die Arbeit behindert, dass da IM's waren?

(BS): Das ist schlecht zu sagen. Manche, ich kann’s mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass IM's, die also nun wirklich die untersten und keine offiziellen Stasimitarbeiter waren, sondern eben Spitzel, dass die zu dem Zeitpunkt, wo ja klar war, jetzt wird das ganze Ding aufgelöst, jedenfalls so geht es nicht weiter, dass die dann noch irgendwelche Interessen hatten, da etwas zu behindern, sondern sie wollten einfach dabei sein und gucken: „Wie läuft denn das jetzt? Was passiert denn jetzt, ja? Wo ist denn jetzt für mich Gefahr?“ Ich denke, dass war eher so der Gedanke, den die IM's hatten. Ich weiß von einem, dass er auch irgendwo erleichtert war, dass das Ganze jetzt ein Ende hat.

Hat er das auch geäußert?

(BS): Es hat sich keiner geoutet von denen, die in dem Bürgerkomitee saßen. Viel später wurde es dann nach der Aktenöffnung klar.

Und dieses Bürgerkomitee hat ja dann im Grunde genommen so eine Art Regierungsverantwortung übernommen. Vielleicht kannst du das mal kurz darstellen, wie es im Grunde genommen weiterging?

(BS): Es hat sich so entwickelt, mit dem Schnitt: „Jetzt wird die Stasi aufgelöst“. Etwas anderes wurde ja nicht aufgelöst. Rat des Bezirkes gab’s und Stadtverordnetenversammlung gab’s auch noch. Das waren ja alles noch die Alten. Der Einschnitt aber war, hier wird ein Teil des Staatsapparates, ein Organ der Staatsmacht aufgelöst. Und zwar der Repressionsapparat. Es bildeten sich dann zur gleichen Zeit die runden Tische im Bezirk und auch in der Stadt. Es war nicht beabsichtigt, aber es war eben so, dass Leute, die im Bürgerkomitee saßen auch an den runden Tischen vertreten waren. Zum Teil jedenfalls. Sodass das auch im Bürgerkomitee eine Rolle spielte und sich zum Teil vermischte. Also dass dann über die Geschicke der Stadt oder über die Geschicke des Bezirkes, die an den runden Tischen verhandelt wurden, auch im Bürgerkomitee gesprochen wurde. Und auch umgedreht. Auch die Dinge, die wir, also die das Bürgerkomitee, in Punkto Stasiauflösung beachten und verhandeln musste, sind mit an die runden Tische gegangen. So passierte es automatisch, dass sich das Bürgerkomitee mit zu einem Gremium entwickelte, das über die Geschicke der Stadt mit Verantwortung übernahm. Bei den Demos war ja auch alles Thema. Und das war im Bürgerkomitee ähnlich.

Ich kann mich noch erinnern, dass bei den Demos immer vom Bürgerkomitee informiert wurde, was gewesen war.

(BS): Na klar, natürlich. Das Bürgerkomitee hat jeden Donnerstag zur Demonstration informiert, wie der Stand ist, was in der Woche passierte, was als Nächstes passieren musste und wofür wir die Mithilfe der Bevölkerung brauchten. Also zur Bürgerwache wurde immer aufgerufen. Und auch, wenn es Rückschläge gab, es gab ja dann einige. Das kann man aber alles nachlesen.
Es war so, dass wir Anfang Januar merkten, dass so wie die Stasi die Stadtverwaltung einfach nicht mehr haltbar war und einfach weg musste. Die Stadtverwaltung, die Stadtverordnetenversammlung ist ja auch nicht demokratisch legitimiert gewesen. Sie ist durch Wahlbetrug entstanden und nicht mehr zeitgemäß, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben dann als Bürgerkomitee, aber auch andere - es waren ja auch Leute im Bürgerkomitee, die noch in der Stadtverordnetenversammlung von den alten Parteien saßen, wenige, aber ein paar - wir haben dann gefordert, dass die Stadtverordnetenversammlung sich auflösen und für die Übergangszeit bis zur ersten freien Kommunalwahl ein Interimsparlament für die Stadt gebildet werden sollte. Diese Forderung ist immer wieder gestellt worden.

Wann kam die auf?

(BS): Im Januar. Im Dezember haben wir uns noch vorwiegend uns mit der Stasiauflösung beschäftigt. Aber wie gesagt, es spielten dann eben auch Dinge, die die Stadt betreffen, eine Rolle. Es ging immer weiter, es wurde immer mehr. Wir hatten schon das Gefühl, wir sind so eine Art Ersatzparlament. Also sozusagen die Stadtverordnetenversammlung entscheidet und dann musste aber noch das Bürgerkomitee zustimmen, sozusagen die höhere Autorität. Oder einer der runden Tische war die höhere Autorität. Was dann dort entschieden und besprochen wurde, das war dann bindend, nicht etwa was die Stadtverordnetenversammlung beschloss. Es war klar, das kann so nicht weitergehen. Die Stadtverordnetenversammlung hatte der Forderung nach Auflösung nicht nachgegeben. Dann haben einige in der Stadtverordnetenversammlung, eben jene, die aus dem Bürgerkomitee kamen, beantragt, die Stadtverordnetenversammlung möge sich auflösen. Das hat sie dann auch getan. Es war also dann doch eine Selbstauflösung und danach ist das Interimsparlament gegründet worden. Nach dem Muster des Bürgerkomitees. Es war nicht identisch, natürlich nicht.

Das war im Februar?

(BS): Ja. Im Interimsparlament waren dann solche Gruppen, wie parteilose Bürgerinnen oder Offene Arbeit und ähnliche nicht vertreten, sondern eindeutig nur politische Gruppen und Vereinigungen wie Neues Forum, Grüne Partei, Demokratischer Aufbruch, SDP, damals war sie ja noch SDP, erst später SPD,.die Vereinigten Linken und natürlich die alten Parteien, auch die SED.

War das denn damals schon die SED/PDS?

(BS): Ganz normal mit 5 Sitzen und wie alle anderen, mit gleicher Berechtigung. Geleitet wurde das Interimsparlament immer abwechseln von einem Gremium aus 5 Leuten, glaube ich, die sozusagen im Rotationsverfahren die Sitzung leiteten. Die letzte Sitzung habe ich geleitet, die letzte Sitzung vor der Kommunalwahl.

Die neue freie Kommunalwahl war am 06. Mai.

(BS): Und im April war die letzte Sitzung des Interimsparlamentes.

Am 30.Mai 1990 hatte sich das neue Kommunalparlament konstituiert.

(BS): Ja, da hat aber das Interimsparlament auch nicht mehr getagt.

Wie würdest du heute die Arbeit von Bürgerkomitee und Interimsparlament einschätzen?

(BS): Aus heutiger Sicht ist es, denke ich, falsch gewesen, dass die Polizei das Gebäude der ehemaligen Stasi übernahm, weil die Polizei auch wieder eine Staatsmacht ist. Es ist natürlich wirklich etwas Anderes, die heutige Polizei gegenüber der damaligen Volkspolizei.

Kannst du noch einmal kurz schildern, wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist?

(BS): Nein, das weiß ich nicht mehr. Das weiß ich einfach nicht mehr. Da müsste ich jetzt erst nachlesen. Aber wir waren, das muss ich zu meiner Schande gestehen, wir waren schon daran mit beteiligt.

Warum war das falsch?

(BS): Ja, für viele war die Polizei erst einmal negativ besetzt. Das ergibt sich nunmal aus der Geschichte der DDR und das kann man nicht so leicht wegwischen. Natürlich ist Polizei heute etwas Anderes. Aber an manchen Stellen, wie wir es ja dann in den 90er Jahren an manchen Stellen erlebt haben, wie sie beispielsweise mit autonomen Jugendlichen umgingen, da kamen schon noch alte Verhaltensweisen durch. Oder auch Neue, je nachdem. Es ist eben einfach ein Machtapparat. Es ist immer ein Machtinstrument des Staates und muss es auch sein. Aber es ist eben nicht gut in einem so negativ besetzten Gebäude. Zumal da auch mal die Gestapo war, glaube ich. Es wäre wesentlich besser gewesen, wenn dieses Gebäude für die Bürger der Stadt da wäre, als Gebäude, in dem sich sämtliche Institutionen befinden, die Bürgerdienstleistungen anbieten. Wo auch Parteien, die neuen Parteien ihre Büros haben könnten - so eine Art Haus für Demokratie oder Haus der Dienstleistungen und Demokratie. Es ist ja riesig. Man hätte da viel unterbringen können. Die Polizei hätte woanders Quartier beziehen können. Zumal es einfach frappierend ist, man kann jetzt auch drumherum gehen und oben vom Petersberg runterlaufen. Das war ja alles völlige Tabuzone. Man konnte von keiner Seite dieses Gelände einsehen, das ist ja jetzt alles möglich. Allerdings schon wieder begrenzt, weil es eben die Polizei ist. Da gibt es auch Tore und Zäune und auch Stacheldraht und das ist einfach nicht gut.

Was ist dir heute das Wichtigste, wenn du an die Ereignisse von damals denkst?

(BS): Ja, es ist natürlich so, wenn man jetzt im Nachhinein, nach 15 Jahren, überlegt, wie das alles abgelaufen ist, war sicherlich klar, sie waren überrascht. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass das Volk die Stasi besetzt oder in ihre Dienststellen eindringt. Aber sie haben sich schon sehr schnell wieder gefangen. Ich denke schon nach wenigen Tagen hatten sie wieder - da sie sowieso schon in Umbildung war-, wie wir heute wissen. Aus dem MFS sollte das AFNS gebildet werden, mit vielen Einschränkungen, auch mit vielen Entlassungen, es sollte verkleinert werden. Aber sie haben das für sich auch ausgenutzt, sie waren immer noch am längeren Hebel. Davon bin ich überzeugt. Sie haben viele Dinge noch hinter unserem Rücken machen und vielleicht auch noch Werte ins Ausland schaffen können, was wir ja nun gerade verhindern wollten. Parteivermögen, was auch immer, ich weiß es nicht. Aber ich denke, vieles haben wir nicht gewusst und so naiv und völlig bar jeder Ahnung, wie so ein Geheimdienst funktioniert, war es logisch, dass sie uns überlegen waren. Aber wir waren eben die Nadelstiche. Wir haben nicht locker gelassen und an manchen Stellen haben wir eben doch etwas rausgekriegt, was unser Verdienst bei allen falschen und aus Naivität geborenen Entscheidungen war, die wir trafen. Aber das, was wir eben geschafft haben ist, dass die Akten wirklich zugängig gemacht wurden. Und das ist wirklich einmalig, denke ich. Dieser Geheimdienst hat sich ja nun wirklich aufgelöst; bis auf möglicherweise irgendwelche Grüppchen, die noch irgendwo rumschwirren. Aber die Akten sind zugängig, jedenfalls das was davon übrig ist. Und es wird wissenschaftlich daran gearbeitet, wie so ein Geheimdienst funktionierte. Die ganze Repression dieser Diktatur, dieser zweiten Diktatur, wird aufgearbeitet. Und das ist ein großer Verdienst. Das denke ich, das haben wir wirklich geschafft. Und das ist auch etwas, was offensichtlich andere Ostblockstaaten von uns auch abgucken. Es gibt ja Anfragen, dass die jetzige Behörde, die Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen ihre Erfahrung weitergibt an andere Länder. Das ist gefragt. Und das finde ich schon toll.